#13 Eine Fallstudie und eine Frage
Was wäre, wenn Schule Legasthenie verursacht? von Je’anna L Clements
Fallstudie 1
In Fallstudie 2 wird ein junger Mensch beschrieben, der seine „Lese- blockade“ auf eine sehr plötzliche und spontane Weise auflöst.
Diese erste Geschichte gibt einige Einblicke in die Art und Weise, wie junge Menschen selbstbestimmt an ihren Problemen arbeiten können, die nicht so offensichtlich sind. Diejenigen von uns, die keine Erfahrung mit Selbstbestimmter Bildung haben, können sich nur schwer vorstellen, wie junge Menschen lernen, ohne unterrichtet zu werden, oder Schwierigkeiten ohne professionelle Hilfe bewältigen. Beobachtungen von jungen Menschen im Klassenzimmer sind da nicht sehr hilfreich - wenn man Menschen darauf trainiert hat, sich unter bestimmten Umständen auf bestimmte Weise zu verhalten, ist das, was man sieht, das Ergebnis dieses Trainings. Wenn Sie sie frei lassen und heilen lassen, ist das, was Sie sehen werden, etwas ganz anderes. Ich habe inzwischen die Gelegenheit gehabt, eine Reihe von wirklich freien jungen Menschen direkt zu beobachten. Lassen Sie mich von einem erzählen, den ich gerade beobachte.
D. ist jetzt zehn Jahre alt. Als sie drei Jahre alt war, war ihre Mutter überzeugt, dass sie früh lesen lernen würde - vielleicht würde sie es sogar schon mit vier Jahren lernen. Sie interessierte sich schon für Buchstaben und Wörter und liebte es, wenn ihr vorgelesen wurde. Sie gab sich bereits Mühe, Teile einer ihrer Lieblingsgeschichten auswendig zu lernen, damit sie sie „lesen“ konnte, indem sie die Seiten umblätterte und den passenden Text dazu aufsagte.
Aber die Zeit verging und irgendwie kam sie nicht über die Idee hinaus, dass „Lesen“ bedeutet, sich an die gehörte Geschichte zu erinnern und sie mit dem Buch als Requisite wiederzugeben. Sie kam nicht auf die Idee, ein einzelnes „Wort“ mit einer einzelnen Gruppe von Symbolen auf der Seite zu verbinden.
Ihre Mutter war eine erfahrene Mentorin Selbstbestimmter Bildung und ließ die Dinge einfach sein. D. hatte viele andere Interessen und war offensichtlich intelligent und entwickelte sich ausgezeichnet. D.s Eltern lasen ihr weiterhin vor, und sie lebte in einem Haus voller Bücher und sah ihre Eltern ständig lesen - die wussten, dass die Zeit kommen würde, dass sie bereit war.
Eine interessante Zwischenstufe war die Kommunikation mit Freunden und Familie per Text durch Emojis, um eine Bedeutung zu vermitteln - nicht nur zur Dekoration - und das Schreiben langer, aus Bildern bestehender Wunschlisten und To-Do-Listen (ich habe festgestellt, dass dies bei Kindern, die selbstbestimmt lernen eine häufige Phase beim Lesen lernen ist - den Weg zur Verwendung abstrakterer Symbole mit bildlichen Darstellungen zu beginnen.)
Als D. acht Jahre alt war, hatte ihre Mutter den starken Verdacht, dass sie Dyslexie haben könnte - aber D. beschäftigte sich immer noch nicht so viel mit Lesen, dass man das eindeutig hätte feststellen können. Manchmal beklagte sie sich über Sehprobleme, insbesondere bei der Beschäftigung mit Texten, aber professionelle Augentests ergaben nichts.
Als sie sich ihrem neunten Geburtstag näherte, nahm das Interesse am Lesen zu. Sie begann, aktiv darum zu bitten, gemeinsam zu „lesen“, und ihre Eltern kamen dem nach. Eines wurde schnell klar: In dem Moment, in dem jemand ihre Fortschritte ansprach, von ihr erwartete, dass sie zu einer bestimmten Zeit lesen wollte, weil sich eine Routine einstellte, oder sie zum Lesen aufforderte, obwohl sie es nicht initiiert hatte, sie zum Weitermachen ermutigte, wenn sie aufhörte, oder versuchte, sie „bei der Stange“ zu halten, wenn ihre Aufmerksamkeit nachließ. . . machte sie einen Rückzieher und las wochenlang nicht mehr. Und auch wenn alle darauf achteten, nichts dergleichen zu tun, arbeitete sie in Schüben am Lesen: Las tagelang bis spät in die Nacht, dann verlor sie für ein oder zwei Tage langsam das Interesse, legte über Wochen oder Monate eine Pause ein, dann flackerte das Interesse plötzlich erneut auf. Während dieser Zeit begriff sie das Konzept, dass Buchstaben Laute abbilden und Buchstabenkombinationen Silben und Wörter abbilden, und es gelang ihr, Wörter zu zerlegen und Buchstabe für Buchstabe zu lesen. Sie bewältigte ein paar Bücher für Leseanfänger.
Inzwischen war ihre Mutter überzeugt, dass sie dyslektisch war. Das Wort „Haus“ wurde ein Sichtwort, „der“ und „und“ jedoch nicht. Zusätzlich zu der üblichen Anfängerproblemen, „b“ mit „d“, „p“, „g“ und „q“ zu verwechseln, las sie statt
„I’m“ oft „my“, „ten“ statt „net“ und „saw“ statt „was“, und selbst längere und kompliziertere Wörter brachte sie manchmal durcheinander. Manchmal musste ein sorgfältig Buchstabe für Buchstabe gelesenes und triumphal gemeistertes Wort ein paar Wörter weiter noch einmal von Grund auf neu gelernt werden, und dann wieder ein paar Zeilen weiter und auf der nächsten Seite noch einmal. „C-h“ wollte ihr einfach nicht als „ch“ im Gedächtnis bleiben, egal wie oft es erklärt wurde, und manchmal interpretierte sie es auch als „th“ oder „sh“.
Sie machte auch oft Pausen mitten im Satz oder sogar mitten im Wort, um von etwas vor dem Fenster Notiz zu nehmen, eine zufällige Bemerkung über etwas zu machen, das heute passiert war, oder um Illustrationen oder Elemente der Geschichte zu kritisieren. Da ihre Mutter eine geübte Begleiterin Selbstbestimmter Bildung ist, interpretierte sie das nicht als „Problem“, sondern respektierte es als das, was es tatsächlich war - eine Möglichkeit, den Augen eine kurze Pause zu verschaffen und Angstgefühle und Druck abzubauen. Die Möglichkeit, ihre Aufmerksamkeit „schweifen zu lassen“ war in der Tat eine hilfreiche Bewältigungs- strategie, die D. dabei half, durchzuhalten.
Als D.s zehnter Geburtstag nahte, begannen Verhaltensweisen, die ihre Mutter als „Selbstförderung“ bezeichnete. Bis jetzt hatte D. nur in Zusammenhängen gelesen - alle Wörter laut buchstabiert und dann den Satz wiederholt, um den Fortgang der Geschichte zu verstehen. Nachdem sie das Grundkonzept des Lesens, den Zugang zur Bedeutung, gemeistert hatte, begann D. nunmehr an ihren „Problembereichen“ zu arbeiten - dem Entschlüsseln von Text mit weniger Kontext und der Rechtschreibung.
Sie begann, wahllos Wörter auszuwählen um „abwechselnd zu lesen“, wenn ihre Mutter ihr vorlas. Zu ihren Lieblingswörtern gehörten die Soundeffekte in Asterix-Comics - da die Illustrationen keine Anhaltspunkte zur Unterscheidung zwischen „zack“, „knuff“, „puff“ oder „boing“ boten, waren es „Wörter“, die man nicht erraten konnte, sondern die man Buchstabe für Buchstabe lesen musste. Oder sie kuschelte sich an ihre Mutter, während diese ihre eigenen Bücher las, und pickte sich, verstreut auf der Seite des Buches, kurze Wörter heraus. Sie hörte mit allem anderen Lesen auf und begann zu schreiben. Sie begann, „Projekt“-Blätter für ihre Lieblingsbeschäftigungen zu schreiben. Sie begann, ihren Freunden SMS mit Worten zu schreiben statt mit Emojis. Sie begann, Tagebuch zu schreiben. Sie begann die Liedtexte aufzuschreiben, die sie verfasste, anstatt sie nur auswendig zu lernen. Ihre Mutter wusste, dass es falsch wäre, D.s Rechtschreibung zu „korrigieren“ - und ihre Freunde lernten schnell, dass sie auf jeden hilfreichen Kommentar zu ihrer Rechtschreibung entgegnete, man möge sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern. Sie liebte es, ein Wort innerhalb von zwei Sätzen dreimal anders zu schreiben, und verteidigte dies als ihr Grundrecht. Sie war immer bereit, als Dolmetscherin zu fungieren, wenn jemand nicht weiter kam, solange er dieses Recht respektierte. Eines der wenigen Dinge, die immer gleich blieben, war die Verwendung von „tsh“ anstelle des englischen „ch“. Sie recherchierte viel im Internet, und dafür bat sie Leute, ihr zu sagen, wie man etwas „richtig“ schreibt, und schrieb sich die Wörter auf, die sie häufig benutzte, und tippte sie ab.
Eines schönen Tages wandte sie sich freudestrahlend an ihre Mutter, um ihr einen Triumph mitzuteilen. Sie war stolz, dass sie „entdeckt“ hatte, dass es effizienter war, „ch“ anstelle von „tsh“ zu benutzen.
Schon bald begann sie, wie besessen Reklametafeln und andere Beschilderun- gen zu lesen, und Nummernschilder - Text ohne viel Kontext, der technischer entschlüsselt werden muss. Sie und ihre beste Freundin verbrachten dann mehrere Tage damit, ihre alten Text-Threads auf Discord durchzuscrollen und über ihre eigene Rechtschreibung zu lachen - ein lustvoller Prozess der achtsamen Selbstkorrektur. Als nächstes begann sie, ihre Lieblingssongs nach Gehör zu lernen, und dann Karaoke- und Textversionen mitzulesen - so lernte sie eine Vielzahl von Schriftarten kennen.
Eines Abends beschloss sie dann spontan, eine ganze Asterix-Sprechblase zu lesen und nicht nur die Soundeffekte. Zu ihrer Freude meisterte sie jedes Wort bis auf „Kampagne“. Dann las sie die gesamte nächsten Doppelseite laut vor und bat ihre Mutter nur bei einer Handvoll Wörter um Hilfe - die meisten davon lateinisch, und Eigennamen wie „Automatix“. Sie verkündete triumphierend: „Das beweist es! Wenn ich am Lesen arbeite, schaffe ich es nicht, aber wenn ich eine Pause vom Lesen mache, lerne ich alles darüber!“ Ihrer Meinung nach war die „Arbeit“ an Reklametafeln und Karaoke-Songs „nicht lesen“, sondern „nur spielen“.
Als sie ihren eigenen Triumph bemerkte und dass sie sich selbst damit brüstete, wandte sie sich an ihre Mutter und ermahnte sie eindringlich, ihre Erwartungen zu zügeln. „Aber dass ich jetzt lesen kann, heißt nicht, dass ich auch schreiben kann! Das ist nicht das Gleiche!“ Was für eine wunderbare Selbsterkenntnis. Eine neue Absicht schlug Wurzeln.
Sie blieb an diesem Abend lange auf, um ihren Triumph zu festigen, indem sie 15 Seiten Asterix im Stillen las, bei weniger als zehn Wörtern um Hilfe bat und stolz verkündete, dass sie bei „Legionär“ nicht um Hilfe hatte bitten müssen.
„Legionär“. Dann schlief sie glücklich ein, stolz auf ihre völlig eigenständig erreichte Leistung. „Ich liebe es, zu lesen!“, sagte sie, als sie die Augen schloss.
Falls Sie schon einmal miterlebt haben, wie ein kleines Mädchen in der Schule Unterricht und Nachhilfe für die gleichen Probleme bekommt, die D. bewältigt hatte. . .
Haben Sie dabei etwas Ähnliches gesehen wie das Selbstvertrauen, die Leiden- schaft und die Freude, die D. erlebt hat? Sie hat keine Vorstellung davon, dass sie „hinterher“ ist. Sie genießt einfach ihr eigenes Leseabenteuer.
In einer schulischen Umgebung wäre sie mit sechs Jahren zur Diagnose geschickt worden, und alle wären besorgt gewesen. Höchstwahrscheinlich hätten Versuche, ihr zu helfen, Widerstand ausgelöst und mit Sicherheit ihr Selbstwertgefühl beein- trächtigt. Mit neun Jahren wäre wahrscheinlich sogar sie selbst krank vor Sorge und angesichts ihrer neurologischen Voraussetzungen zu sehr unter Druck, um ein Buch auch nur anzuschauen. Aber wenn man sich diese Detailaufnahme anschaut und sieht, wo sie jetzt mit zehn Jahren steht und wie weit sie wahrscheinlich kommen wird, wenn sie noch acht stressfreie Jahre so weiter machen kann, erken- nen wir, dass ihre „Dyslexie“ im Alter von achtzehn Jahren wahrscheinlich von der Art sein wird, die Daniel Greenberg begegnet. Höchstwahrscheinlich ist sie unsichtbar. Ein Talent, ein Neurotyp, ein persönlicher Stil, aber kein „Fall“.
Es sei darauf hingewiesen, dass sowohl D. als auch W., der später noch vor- kommt, immer wussten, dass sie um Hilfe bitten können, wenn sie sie brauchen. Möglicherweise bitten sie in den kommenden Jahren auch noch um Unterstützung beim Lesen oder der Rechtschreibung - oder irgendetwas anderem. Aber es würde zu ihren eigenen Bedingungen geschehen, weil sie persönlich es so wollen, und es wäre ein Ausdruck ihres Selbstvertrauens - als ob sie beim Geige lernen um Hilfe bitten - und kein Ausdruck ihrer Unzulänglichkeit.