#17 Eine zweite Fallstudie und ein paar Fragmente
Was wäre, wenn Schule Legasthenie verursacht? von Je’anna L Clements
Fallstudie 2
Die Neugier von W.s Mutter war geweckt, als er zum ersten Mal eine realistische menschliche Figur zeichnete. Er war etwa vier Jahre alt. Er zeichnete die Figur im Querformat, als ob sie liegen würde, aber in einer Haltung, als ob sie aufrecht stehen würde. Dann drehte er das Papier ins Hochformat und klebte es an die Wand. Auf Nachfrage bestätigte er, dass er die Figur stehend darstellen wollte. Sie fragte, warum er sie seitwärts gezeichnet hatte, anstatt sie von vornherein aufrecht im Hochformat zu zeichnen. Er zuckte nur mit den Schultern.
Als W. fünf Jahre alt war, kannte er ein paar Buchstaben, und seine Mutter versuchte (vorsichtig), ihm mehr beizubringen. Das war knifflig, denn er ärgerte sich sehr darüber, dass für einen Buchstaben unterschiedliche Schriftarten verwendet werden konnten.
Hinzu kam, dass W. extrem willensstark war. „Wenn du willst, dass er etwas NICHT tut, schlage ihm vor, genau das zu tun!“, seufzte seine Mutter oft.
Eines Tages, als sie es gerade geschafft hatte, ihn dazu zu bringen, sich mit einem Stift hinzusetzen und tatsächlich ein paar Buchstaben abzuschreiben - Halleluja! - warf er den Stift zur Seite, sprang auf und kippte seinen Korb mit Spielzeugwaffen aus. Sie atmete tief durch, denn sie war eine Mutter, die keinen Zwang ausübte, und beobachtete, wie er seinen Namen mit Plastikschwertern und -pistolen schrieb. Damals fand sie das frustrierend. Später, als sie sowohl die Orton Gillingham-Methode als auch selbstbestimmtes Lernen kennen gelernt hatte, erkannte sie, dass dies ein weiteres Beispiel war für die Weisheit, die den Selbsterziehungstrieben innewohnt.
Sein Interesse war nicht von Dauer. Es verblasste aber auch nicht völlig. Alle paar Monate interessierte er sich für das Lesen und Schreiben - für ein paar Tage. Dann verschwand das Interesse wieder, verdrängt von Aktivitäten wie mit Magneten spielen, auf Bäume klettern, Fahrradfahren lernen und Staub und verschiedene Gegenstände immer wieder gegen den Wind werfen, um zu sehen, was passieren würde. Im Nachhinein erinnert sie sich, dass er sich auch sehr viel mit Wimmelbüchern beschäftigte - etwas, das das Auge trainiert, zwischen Figuren und Hintergrund zu unterscheiden, sich auf Details zu konzentrieren und gleichzeitig mit einer Menge zweidimensionaler visueller Komplexität umzugehen.
Seine Mutter studierte inzwischen Selbstbestimmte Bildung, daher versuchte sie sich keine Sorgen zu machen, als er mit sechs Jahren immer noch nicht lesen konnte. Auch nicht im Alter von sieben Jahren. Sie erlaubte sich auch nicht unruhig zu werden, als er im Alter von acht Jahren dann einfache, sehr kurze Wörter beherrschte (aber auch nur an „guten Tagen“, und nur Wörter wie „Katze“ und „Hund“ und nicht Wörter wie „der“ und „und“). Das Durchschnittsalter für „natürliches“ Lesenlernen liegt bei 8,5 Jahren, hatte sie inzwischen gelernt - mit großen Schwankungen in beide Richtungen.
Da er es liebte, Spielzeug-„Flugzeuge“ dahingehend zu beurteilen, ob sie im wirklichen Leben tatsächlich fliegen würden, und zwar auf der Grundlage der Aerodynamik ihres Designs, war er eindeutig klug genug. Und da er sogar Physikabsolventen auf einer Jobmesse der Universität genau erklären konnte, warum und wie ihre magnetisch schwebende „fliegende Bratpfanne“ konstruiert sein muss, hatte er offensichtlich etwas aus all seinen selbstgewählten Aktivitäten gelernt - er hatte zum Beispiel gemessen, wie hoch seine selbst gebauten Katapulte Dinge in die Luft schleudern und sich fantastische Ideen für alternative Energiequellen ausgedacht - auch wenn er noch nicht lesen konnte (Sie bemerkte gegenüber Freunden, dass er ein fortgeschrittenes Verständnis von Magneten besaß, noch bevor er das Wort „Magnet“ lesen konnte).
Dann kam der Tag, kurz vor seinem 9. Geburtstag, als er seinen Namen rückwärts auf ein Stück Papier schrieb und eine halbe Stunde lang herumlief und laut sagte: „Ist das vorwärts oder rückwärts geschrieben? Ich kann mich nicht entscheiden!“ Mit einem Seufzer gestand sich seine Mutter ein, dass das eigentlich genau die „Botschaft“ war, die sie brauchte, um ihr klarzumachen, dass es an der Zeit war, sich mit Dyslexie zu beschäftigen.
Die ersten Quellen, die sie fand, waren grauenhaft. Sie ließen Dyslexie wie Lepra klingen. Dann entdeckte sie „The Gift of Dyslexia“ (Die Gabe der Dyslexie) von Ron Davis. Aha! Dyslexie ist eigentlich eine Gabe? Ja, das klang dann doch nach ihrem Jungen. Ron Davis hatte eine Methode entwickelt, um Dyslektikern beim Lesen lernen zu helfen, und tatsächlich gab es in ihrer Stadt einen entsprechenden Therapeuten. Jetzt galt es die finanziellen Mittel für die Sitzungen aufzubringen. Aber da sie inzwischen von Selbstbestimmter Bildung überzeugt war, sprach sie zuerst mit ihrem Sohn, bevor sie eine Sitzung buchte. Sie erzählte ihm die guten Neuigkeiten - dass er vielleicht die gleiche Art von Gehirn hatte wie Leonardo Da Vinci (der ihn seit kurzem interessierte). Dann beschrieb sie ihm, was sie in dem Buch über die Funktionsweise der Dyslexie in Bezug auf das Lesen lernen gelesen hatte. Er übersetzte dies in seine eigenen Worte: „Du willst mir sagen, dass ich beim Lesen einen anderen Gang einlegen muss?“
In dieser Nacht begann er, ganze Sätze zu lesen (das Lesen verschob er immer auf den späten Abend, wenn die wunderbare freie Natur nicht mehr erreichbar war). Nach einer Weile wurde er müde und brachte ein Wort durcheinander. „Ich glaube, du hast einen falschen Gang erwischt“, sagte sie, und er korrigierte das Wort und machte weiter.
In den folgenden Monaten las er mehrere Bücher aus der Serie Magisches Baumhaus, bevor er sie als nervig empfand. Als nächstes kam Slime Squad, gefolgt von Nancy Drew.
Er verbrachte einen längeren Zeitraum (mehrere Wochen, vielleicht sogar ein paar Monate, seine Mutter ist sich im Nachhinein nicht sicher) damit, laut lesen zu „müssen“, während er sich allmählich selbst das stille Lesen beibrachte, mit verschiedenen Zwischenstufen wie Flüstern und lautlosen Mundbewegungen. Zum Glück war er nicht in Situationen, in denen Gleichaltrige ihn dafür gehänselt hätten, so dass er einfach tun konnte, was nötig war. Und anscheinend war es nötig, dass er seine Augen benutzte, um sich das Gelesene anzuhören, bis Augen- und Ohrenlesen miteinander verbunden wurden.
Innerhalb von 18 Monaten wühlte er sich durch die gesamte Harry-Potter-Reihe und alles von Percy Jackson. Er verschlang Eoin Colfer. Die Eragon-Bücher las er schnell. Er verschlang auch alles, was seine Mutter an Jugendbüchern finden konnte, und dann, angesichts seines zarten Alters und des inzwischen fortgeschrittenen Leseniveaus, gab sie ihm von Terry Pratchett ein Buch nach dem anderen in die Hand, einschließlich aller „Erwachsenen“-Bücher, die er alle zweimal durchlas.
Und. . . er konnte das Wort „Leute“ immer noch nicht buchstabieren, ohne zur Hilfe auf eine Tastatur zu blicken.
Aber hey, wen kümmert das schon, wenn man damit beschäftigt ist, mit dem Kerbal Space Program (einem Computerspiel für Raumfahrtsimulationen) alles zu simulieren, was Space-X macht. . .
Mit 15 Jahren liest er derzeit nicht viel Belletristik. Aber er genießt es sehr, interaktiv die Rollen von König Duncan bis hin zu Lady MacBeth zu lesen, laut und spontan, in einer Gruppe, die sich wöchentlich trifft, um sich ein paar Stunden mit Shakespeare zu befassen. Abgesehen davon ist er zu sehr damit beschäftigt, die Schwerkraftdynamik von hypothetischen Achterbahnen zu berechnen und sich mit boolescher Logik zu beschäftigen, um ein „nand-to-tetris“-Projekt zu erstellen, um Spaß mit ein paar Freunden zu haben „und meine Mathe-Lücken zu füllen“ (er hat sich noch nie hingesetzt, um eine Seite voller schriftlicher Divisionsaufgaben zu lösen, aber das ist ein Thema für ein anderes Buch!), verdiente sich etwas Taschengeld mit seinem ersten digitalen 3D-Modellierungsauftrag, beschäftigte sich zum selben Zweck mit Webdesign und erkundete Elemente des Computerspiel-Designs. Für nichts davon hätte er viel Zeit aufwenden könne, wäre er damit beschäftigt gewesen, an seiner Rechtschreibung und Handschrift zu arbeiten, Geografie und englische Grammatik zu meistern und darauf zu achten, dass seine Uniform ordentlich und seine Haare kurz sind (was sie nicht sind).
Es sei angemerkt, dass er nie in etwas anderem als Parkour und Trompete spielen offiziellen Unterricht hatte (und ein paar Theaterstunden, die er als nervig fand). Stattdessen sucht er im Internet nach dem, was er braucht, experimentiert mit Dingen im Garten, in der Küche und am Kamin und sucht das direkte Gespräch mit sachkundigen und interessanten Menschen. Infolgedessen sind seine sozialen Kompetenzen und seine Recherchefähigkeiten sehr, sehr gut.
Allerdings kann er mit 15 immer noch nicht das Wort „Leute“ buchstabieren, ohne zur Hilfe auf eine Tastatur zu blicken. Aber er sieht darin kein Problem. Er hat es geschafft, Fortschritte beim Verfassen von ein paar Science-Fiction- Kurzgeschichten zu machen, und er hat nie Probleme, das zu schreiben, was er braucht, um im Internet nach Tutorials zu suchen, die er strukturierten Kursen vorzieht. Und wenn (gelegentlich) jemand vorschlägt, dass er ein Stück Papier mit einem scharfen Werkzeug bearbeiten soll, reagiert er, als ob dies ganz offensichtlich eine Missachtung seiner grundlegenden Menschenrechte ist. Er bastelt die wunderbarsten digitalen Geburtstagskarten für die Familie. Er kann es kaum erwarten, dass Neuralink realisiert wird (ein Gehirnimplantat zur direkten Kommunikation mit Computern).
Als wir mit ihm über die Erstellung dieses Textes sprachen und den Sinn von Nachhilfeunterricht, sagte er einfach: „Ich musste schon immer auf eine andere Art und Weise lernen“.
Sein „geistiges Bild“ von Nachhilfeunterricht ist das von Erwachsenen, die versuchen, ein Kind zu zwingen, gegen eine Wand zu laufen, wieder und wieder und wieder und wieder. . . wenn es sich selbst überlassen wäre, könnte es einfach um die Mauer herumlaufen.
Wäre es besser gewesen, ihn mit fünf Jahren in die Schule zu schicken und ihn mit der Orton Gillingham-Methode und vielen anderen Fördermaßnahmen dazu zu bringen, das Lesen ein paar Jahre früher zu lernen (auf Kosten der meisten seiner selbstgewählten Physikversuche) und die harte Arbeit auf sich nehmen, sein Selbstwertgefühl zu retten?
Was glauben Sie wirklich: Wäre es zum Besten dieses Dyslektikers gewesen, ihn zur Schule zu schicken und ihm zu „helfen“, mit seinen Gleichaltrigen „mitzuhalten“?
Falls ja, würde ich gerne Ihre Argumente hören.