#18 Ein paar Schnipsel
Was wäre, wenn Schule Legasthenie verursacht? von Je’anna L Clements
• Die 8 jährige Nichte einer Lernbegleiterin kam in den Ferien für ein paar Tage zu ihrer Tante. Die Familie (BIPOC, Arbeiterklasse) war sehr beunruhigt, weil ihr Kind „nicht lesen konnte“ und in der Schule furchtbar schlecht war. Die Tante, die schon ein sehr gutes Verhältnis zu dem Kind hatte, sorgte dafür, dass viele einfache Bücher herumlagen, von denen sie wusste, dass ihre Nichte sie aufgrund der Themen, des Inhaltes und der Bilder toll fände. Und tatsächlich, ihre Nichte nahm sie zur Hand, um sie anzuschauen und rief ihrer Tante bald aufgeregt zu: „Schau mal, ich kann lesen! Sie sagen, ich kann nicht gut lesen, aber das hier kann ich lesen!“
• Eineiige Zwillinge an einer Sudbury-Valley-Schule lernten vor allem dadurch Lesen und Schreiben, dass sie ihre eigenen kleinen „Bücher“ erstellten und sie sich und ihren Freunden gegenseitig vorlasen. Eine schrieb kein einziges Wort auf, ohne sicher zu sein, dass es „richtig“ geschrieben ist. Die andere freute sich über ihre persönliche kreative Rechtschreibung und betrachtete es als ein spannendes Thema herauszufinden, ob der Lernbegleiter verstehen würde, was sie geschrieben hatte. Beide genossen jede Minute ihrer Reise, denn es war ihre eigene.
• Folgendes erhielt ich als Reaktion, als ich in einem Forum einen Aufruf für Beiträge zu diesem Text zum Thema alternative Bildung platzierte: „Ich denke, Du hast Recht, dass es vor allem darauf ankommt, wann der Schüler lernen will, und wann er bereit ist zu lernen. Ich glaube unter anderem, dass viele Fälle von Legasthenie darauf zurückzuführen sind, dass Schüler zu früh zum Lernen gezwungen werden. Wenn sie bereit sind, werden sie es irgendwie lernen.“ - von Jerry Mintz, dem Gründer der Alternative Education Resource Organisation. Wohlgemerkt, er war nicht nur Lehrer an einer öffentlichen Schule, bevor er Direktor einer alternativen Schule wurde, sondern führte auch über viele Jahre hinweg diverse interaktive Bildungskonferenzen durch und half bei der Gründung zahlreicher Alternativschulen in Amerika und im Ausland mit. Mit anderen Worten, er hat sie alle gesehen!
Wenn Ihnen diese Fallgeschichten und Ausschnitte gefallen haben und Sie mehr darüber erfahren möchten, wie junge Menschen, die sich selbstbestimmt bilden, Lesen lernen, finden Sie ein paar Vorschläge im Abschnitt „Zur weiteren Leküre“.
Das Wichtigste ist, dass das Lesen lernen auf viele verschiedene Arten erfolgen kann, und sehr oft wissen Lernbegleiter und die Eltern von unbeschulten jungen Menschen gar nicht genau, wie diese lesen gelernt haben - nur dass sie es geschafft haben.
Anhand der Fallgeschichten von W. und D. sieht man, dass sie sich anderen Lernstoff nicht dadurch erarbeiten, dass sie ihn anhören und ihre Aufgaben am Computer einreichen dürfen, sondern unter anderem dadurch, dass sie „außer der Reihe“ lernen, YouTube-Tutorials nutzen und den Zugang zu Personen, die direkte Fragen beantworten können.
Sie lernen Schreiben und Lesen, weil sie die Freiheit haben, kreative Rechtschrei- bung zur aktiven Kommunikation zu nutzen, ohne beschämt zu werden; indem sie die Texte ihrer Lieblingslieder auswendig lernen und dann beim Karaoke mitlesen anstatt sich durch langweilige Leseanfängerbücher quälen zu müssen. Mit anderen Worten - indem sie tun, was zu ihnen individuell passt. Aber.
Wenn Sie alle Kinder der Klasse zwingen, Karaoke zu singen oder auf You- Tube zu surfen, werden Sie schnell feststellen, dass es eine ganz neue Gruppe von „Lernschwierigkeiten“ gibt, denn nichts eignet sich für alle. Es gibt Autos mit Elektromotoren, Autos mit Verbrennungsmotoren, von denen manche mit Benzin betrieben werden, andere mit Diesel oder Biokraftstoff; Autos in den unterschiedlichsten Formen, mit Automatik, mit Handschaltung, mit Motoren aller Größen. Die Quintessenz ist, dass der Unterschied zwischen einem Auto und einer Kutsche folgender ist: Das Auto hat kein Pferd!
Was wäre, wenn der Unterschied zwischen einer Bildung, die für Dyslektiker - und uns alle - optimal ist, und einer Bildung, die einige - oder alle - behindert, folgender ist: dass jeder Mensch lernen kann, was, wann und wie es ihm am besten passt, ohne äußere Zwänge?
Keine. Kein aufgezwungener Lehrplan. Keine aufgezwungenen Methoden. Kein aufgezwungener Zeitplan. Keine vorgegebener Ort. Keine vorgeschriebenen Be- gleiter, Mentoren, Lehrer. Keine auferlegten Tests, Bewertungen, Benotungen. Keine aufgezwungenen Ziele oder Ergebnisse.
Keine äußeren Zwänge!
Dyslektiker sind erfolgreich, wenn sie sich selbst steuern können. Was wäre, wenn ...
Was wäre, wenn alles andere tatsächlich behindernd wäre? Genau das glaube ich. Was sagen Sie dazu?