#7 Wenn es bei Selbstbestimmter Bildung keine Legasthenie gibt, was gibt es dann?
Was wäre, wenn Schule Legasthenie verursacht? von Je’anna L Clements
„Wir haben nie Lesen unterrichtet“, sagt Daniel Greenberg von der Sudbury Valley School (SVS) in dem oben erwähnten Interview mit Lenore Skenazy.
Wenn an der SVS Lesen nicht gelehrt wird, wie sollen die Kinder es dann lernen?
Die Sudbury Valley School praktiziert eine Form der Bildung, die als „Selbstbestimmte Bildung“ (Self-Directed Education (SDE)) beziehungsweise „Natürliches Lernen“ bezeichnet wird.
Zu dem, was wir gerade bezüglich Motivation festgestellt haben, folgen jetzt zwei gegensätzliche Listen, die wahrscheinlich nicht vollständig sind, aber einige Punkte umfassen, die den Prozess des Lesenlernens bei Selbstbestimmter Bildung beschreiben, im Vergleich zu dem Prozess, wie er in den meisten Schulformen abläuft.
Die Punkte stehen nicht in einer bestimmten Reihenfolge, sondern sind nummeriert, damit Sie sie leicht Punkt für Punkt gegenüberstellen können.
Bei Selbstbestimmter Bildung (SDE), wie sie an der Sudbury Valley School praktiziert wird, lernen die jungen Menschen so lesen:
Wenn sie dazu bereit sind, egal in welchem Alter. Normalerweise ist das irgendwo zwischen dem 4. und 14. Lebensjahr, mit einem Durchschnitt bei etwa 8,5 Jahren. Vor dem 4. und nach dem 14. Lebensjahr ist ebenfalls in Ordnung, obwohl das extrem selten ist.
Manchmal in einer dichten Abfolge von ununterbrochenem Fortschritt, manchmal in kleinen Schritten über viele Jahre hinweg, mit langen Perioden ohne offensichtliche Lese- und Schreibaktivität.
Nur wenn sie es wollen.
Sie wissen, dass man sie schätzt, würdigt und sich um sie kümmert, und dass sie bleiben dürfen, egal, ob sie jemals lesen lernen oder nicht.
Im Einklang mit ihrem eigenen Tagesablauf, bequem in ihre anderen Akti- vitäten und Prioritäten eingebettet.
Entsprechend ihrem eigenen Biorhythmus (Sie werden feststellen, dass in den beiden längeren Fallgeschichten unten alle Lesefortschritte kurz vor dem Einschlafen stattfanden)
Ohne jeglichen Druck - Lesen wird nicht mehr oder weniger belohnt als Baumkletterkünste.
Mit selbst gewählten Methoden, die sie oft selbst erfunden haben - Methoden, die sich je nach Bedarf verändern und weiterentwickeln.
Auf eine Art und Weise, die den vollen Ausdruck der persönlichen Kreativität, Abenteuerlust und Freude ermöglicht.
In einem zweckmäßigen Zusammenhang, in dem Lesen nicht künstlich überbewertet wird, und wo ihre Fortschritte nicht beurteilt, ja nicht einmal bewertet werden.
Ohne Scham - kein Mitarbeiter gibt ihnen das Gefühl, dass sie bereits lesen können sollten.
Auf eine Art und Weise, die ihnen hilft, ihre Fortschritte und Fähigkeiten in jeder Phase zu spüren, anstatt ihnen die noch zu überwindenden Defizite bewusst zu machen.
Was ist der Unterschied zur Schule? In der Schule wird den Kindern das Lesen so beigebracht:
In dem vom jeweiligen System vorgeschriebenen Alter, was in Montessorischulen mit 4 Jahren bedeutet, in öffentlichen Schulen meistens mit 5 oder 6 Jahren, und in der Waldorfschule mit 9 Jahren. Mit anderen Worten: später als manche Kinder bereit sind und lange bevor andere bereit sind. Lesen im Kleinkindalter wird als „Hyperlexie“ bezeichnet, und den meisten Kindern, die im jeweils vorgeschriebenen Alter nicht lesen können, werden „Lernschwierigkeiten“ zugeschrieben.
In langsamer Abfolge, stetig und gleichbleibend, ununterbrochen, Tag für Tag, ohne nennenswerte Pausen, über Jahre hinweg.
Ohne Rücksicht auf ihre Wünsche und oft aktiv gegen ihren Willen.
Mit dem Gefühl, dass Anerkennung und ein Großteil ihres Wertes als Mensch von ihrem Erfolg abhängen und wissend, dass sie sowohl von Gleichaltrigen als auch von erwachsenen Helfern getrennt werden können und auch werden, je nachdem, wie ihre Leseergebnisse aussehen.
In einem fremdbestimmten Tagesablauf, in vorgeschriebenen Lerneinheiten und ohne Rücksicht auf ihre anderen Prioritäten und Aktivitäten.
Gegen ihren Biorhythmus zu den Tageszeiten, die dem System entsprechen.
Unter Druck - sie erhalten sowohl implizit als auch explizit die Botschaft, dass fast nichts wichtiger ist als das Lesen.
Durch aufgezwungene Methoden, gemäß der pädagogischen Philosophie der Institution beziehungsweise abhängig von aktuellen Modeerscheinungen.
Auf eine Art und Weise, die sie nicht nur entmutigt, sondern sogar bestraft, und die manchmal sogar Kreativität bestraft.
Innerhalb eines beurteilenden Wertesystems, das sowohl die Lese- und Schreibfähigkeit mit dem persönlichen Wert verknüpft als auch den Fort- schritt ständig beurteilt.
Auf eine Art und Weise, die beschämt - es wird darauf bestanden, dass junge Menschen sich anstrengen, um zu bewältigen, was sie nicht bewältigen können.
Unter Umständen, die darauf ausgerichtet sind, Inkompetenz zu betonen und Stärken und kleine Fortschritte herunterzuspielen.
Mit anderen Worten:
• Selbstbestimmte Bildung optimiert Autonomie, Kompetenz und Verbundenheit, während die meisten anderen Bildungssysteme alle drei untergraben.
Selbstbestimmte Bildung ermöglicht Lesen durch intrinsische Motivation, während die meisten anderen Bildungssysteme auf extrinsische Motivation setzen.
Selbstbestimmte Bildung optimiert den Flow, während die meisten anderen Bildungssysteme aktiv Flow-Erfahrungen verhindern.
Was ist das Ergebnis dieser zwei unterschiedlichen Ansätze für Bildung?
In den fremdbestimmten Systemen liest der Großteil der jungen Menschen im Alter von etwa 6 oder 7 Jahren, wobei einige - in Amerika vielleicht sogar 19% - bis zum Verlassen der Schule überhaupt keine funktionalen Lesefähigkeiten erreichen.
In der Sudbury Valley School gibt es keinen funktionalen Analphabetismus und eine große Altersspanne, in der die jungen Menschen lesen gelernt haben. Und beim Verlassen der Schule gibt es kaum Unterschiede zwischen denjenigen, die früh und denjenigen, die es spät gelernt haben.
„Wir haben Kinder, die in einem sehr breiten Altersspektrum mit dem Lesen begonnen haben. Wir hatten einige, die mit vier oder fünf Jahren angefangen haben (das hört jeder gerne), und wir hatten andere, die mit neun, zehn oder sogar noch später begonnen haben. Wenn man jemanden betrachtet, der im Alter von acht Jahren noch nicht lesen kann, weiß man, dass diese Person in einer normalen Schule in eine Leseförderklasse gesteckt und unter enormen Druck gesetzt werden würde. Aber wenn man die Sache durchzieht, so wie wir das im Laufe der Jahre getan haben, diese Person in Ruhe lässt und ihr erlaubt, sich in ihrem eigenen Tempo zu entwickeln, scheint jedes Mal ein „Wunder“ zu geschehen. Wenn sie die Schule verlassen, kann man keinen Unterschied mehr erkennen zwischen denen, die mit vier Jahren zu lesen begonnen haben und denen, die mit elf Jahren angefangen haben.“
- Daniel Greenberg, in „The Sudbury Valley School Experience“
Wenn man das Lesen nicht früh erlernt, ist eine der enormen Auswirkungen natürlich der Dominoeffekt in der weiteren Bildungslaufbahn - wenn man sich in einem Regelschulsystem befindet.
Die meisten Schulen dringen auf frühes Lesen, um eine Grundlage für das weitere Lernen zu schaffen, und junge Menschen, die so spät Lesen lernen wie viele an der Sudbury Valley School, wären stark beeinträchtigt.
Es ist also auch wichtig, bezüglich der Bildung das Gesamtbild - über die reine Alphabetisierung hinaus - zu betrachten. Wenn wir die beiden Systeme vergleichen, wie erwerben junge Menschen den Rest dessen, was wir gemeinhin als „Bildung“ bezeichnen?
Bei der Selbstbestimmten Bildung, wie sie an der Sudbury Valley School praktiziert wird, erwerben junge Menschen Fähigkeiten und Inhalte ausschließlich durch selbst gewählte Aktivitäten. Niemand sonst entscheidet, was sie tun oder lassen sollen (innerhalb der Grenzen der Rechte anderer und der Schulregeln).
Lernen erfolgt meistens durch direkte Lebenserfahrung, ergebnisoffenes Experimentieren und Spielen. Gespräche sind wohl das wichtigste Mittel, um Informationen weiterzugeben und zu erhalten, und Diskussionen und Debatten sind ein gängiges Mittel, um das Gelernte zu erkunden und zu integrieren. Durch die aktive Altersmischung festigen junge Menschen mit mehr Wissen oder Erfahrung ihr Wissen, indem sie anderen helfen, die sich noch mit den Grundlagen auseinandersetzen, und im Gegenzug erhalten die Anfänger persönliche Unterstützung von Lernenden, die nur ein paar Schritte weiter sind und noch nachvollziehen können, wo die Schwierigkeiten liegen, wenn man ein Thema noch nicht ganz durchdrungen hat.
Bei der Selbstbestimmten Bildung beginnt das Lernen oft durch die Beobachtung anderer Menschen bei ihren täglichen Aktivitäten, gefolgt von Experimentieren und Zusammenarbeit, die wiederum oft dazu führt, dass fortgeschrittene Fähigkeiten durch direkte Beziehungen zu Mentoren erworben werden.
Immer häufiger wird auch von Videos gelernt. Vieles lernt man natürlich immer noch durch Lesen - aber das ist freiwillig, je nach Vorliebe. Bei der Selbstbestimmten Bildung lernen viele junge Menschen auch durch Schreiben und Dokumentieren - oder auch nicht, wieder je nach Vorliebe.
Wenn das Lernen durch die Beschäftigung mit Herausforderungen geschieht, die von anderen Menschen gestellt werden, geschieht das auf eigenen Wunsch und völlig freiwillig.
Mit anderen Worten: Obwohl Lesen für junge Menschen in der Sudbury Valley School nützlich ist, steht es ihnen frei, soviel sie möchten auf andere Weise zu lernen. Die Welt bietet im Allgemeinen einen Anreiz zum Lesen lernen, der Aufenthalt in einer Umgebung voller Schrift macht es so einfach, dass es fast unvermeidlich ist, aber es gibt keinen wirklichen Druck, Lesen zu lernen. Und selbst wenn ein junger Mensch dort nicht Lesen lernen würde - was noch nie passiert ist - hätte er ein intaktes Selbstvertrauen und viele andere gut entwickelte Fähigkeiten, um mindestens genauso gebildet und fähig zu sein wie Clarks erfolgreiche Analphabeten.
Was ist der Unterschied zur Regelschule? In der Schule „lernen“ die Kinder in erster Linie durch Lesen, Schreiben und Dokumentieren. Wenn sie das nicht beherrschen, bleiben ihnen die meisten anderen angebotenen Materialien verschlossen. Sie lernen auch durch das Teilnehmen an Vorlesungen, das Ausfüllen von Arbeitsblättern, Auswendiglernen, erledigen von Pflichtaufgaben und allgemein dadurch, Anweisungen zu befolgen - selbst bei Arbeiten, bei denen sie „aus Erfahrung lernen“ sollen. Sie sind nach Altersgruppen getrennt, das System ist von Natur aus wettbewerbsorientiert, und Versuche der Zusammenarbeit gelten als „Schummeln“ und sind nicht erlaubt. Nichts davon hilft dabei, Bedürfnisse zu befriedigen, die Voraussetzung für ihre Motivation sind, und sehr wenig davon bietet Möglichkeiten für Flow-Zustände.