#8. Riskantes Spiel: Warum Kinder es suchen und brauchen
Warum hat Mutter Natur Kinder mit dem Drang ausgestattet, mit der Gefahr zu spielen?
Man sollte meinen, dass Angst eine negative Erfahrung ist, die man tunlichst vermeiden sollte. Doch jeder, der ein Kind hat oder einmal eines war, weiß, dass Kinder es lieben, auf riskante Art und Weise zu spielen - auf eine Art und Weise, die die Freude an der Freiheit mit genau dem richtigen Maß an Angst kombiniert, um die aufregende Mischung zu erzeugen, die wir als Nervenkitzel bezeichnen.
Ein Thema, das sich durch die ganze Substack-Reihe zieht, ist, dass Mutter Natur (die Göttin der natürlichen Auslese) uns mit einem starken Spieltrieb ausgestattet hat, der sich positiv auf unser Leben auswirkt, besonders wenn wir jung sind. Warum also, wenn das stimmt, hat sie Kinder mit dem Drang ausgestattet, beim Spielen mit der Gefahr zu liebäugeln?
Dazu komme ich gleich noch, aber zuerst ein paar Informationen über die häufigsten Formen des Risikospiels, die bei Kindern weltweit beobachtet werden.
Sechs gängige Kategorien von Risikospielen
Ellen Sandseter (2011) hat sechs Kategorien von Risikospielen identifiziert, die bei Kindern überall auf der Welt zu finden sind. Diese sind (mit meinen Ergänzungen):
Große Höhen. Kinder klettern auf Bäume und andere Strukturen in beängstigende Höhen.
Schnelle Geschwindigkeiten. Kinder schwingen an Lianen, Seilen oder Spielplatzschaukeln, rutschen schnell auf Schlitten, Skiern, Rollschuhen oder Spielplatzrutschen, schießen auf Baumstämmen oder Booten Stromschnellen hinunter und fahren mit Fahrrädern, Skateboards und anderen Geräten so schnell, dass sie den Nervenkitzel erleben, teilweise die Kontrolle zu verlieren.
Gefährliche Werkzeuge. Je nach Kultur spielen Kinder mit Messern, Pfeil und Bogen, Landmaschinen, Holzbearbeitungsgeräten oder anderen Werkzeugen, die als potenziell gefährlich gelten.
Gefährliche Elemente. Kinder lieben es, mit Feuer und in oder in der Nähe von tiefen Gewässern zu spielen.
Toben und Raufen. Überall jagen sich Kinder gegenseitig und kämpfen spielerisch auf eine Weise, die zu Verletzungen führen kann. Bei Verfolgungsspielen (wie z. B. Fangen) ist die bevorzugte Position die des Gejagten, was auch die verletzlichste Position ist.
Verschwinden/verloren gehen. Kleine Kinder spielen Verstecken und erleben den Nervenkitzel, wenn sie vorübergehend in Angst und Schrecken versetzt von ihren Kameraden getrennt werden. Ältere Kinder wagen sich weg von den Erwachsenen an Orte, die voller imaginärer und möglicherweise realer Gefahren sind, einschließlich der Gefahr, sich zu verlaufen
Mögliche Vorteile von Risikospielen
WissenschafterInnen, die sich mit riskantem Spiel beschäftigt haben, vertreten die logische und zumindest empirisch belegte Ansicht, dass solches Spiel verschiedene miteinander verbundene, langfristige und lebensfördernde Vorteile hat. Mutter Natur war offenbar so weise wie immer, als sie den Kindern den Drang, mit der Gefahr zu spielen, in die Gehirne pflanzte. Hier sind einige der vorgeschlagenen Vorteile:
Prävention oder Verringerung von Phobien
Psychotherapeuten, die Phobien behandeln, wissen, dass die beste Methode darin besteht, die Patienten zu ermutigen, sich in zunehmendem Maße dem auszusetzen, was sie fürchten. Menschen überwinden Phobien nicht, indem sie die gefürchteten Situationen meiden, sondern indem sie sie erleben. Sandseter und ihre Kolleginnen und Kollegen (2023) vermuten, dass risikoreiches Spielen die Art von Mutter Natur ist, die Wahrscheinlichkeit zu verringern, mit lebenseinschränkenden Phobien aufzuwachsen. Indem Kinder mit Objekten und Situationen spielen, die von Natur aus Angst auslösen, werden sie mit ihnen vertraut, was die Wahrscheinlichkeit der Entwicklung einer Phobie verringert oder ganz ausschließt.
Manche befürchten, dass Kinder, die beim Spielen beängstigende Unfälle oder Verletzungen erleiden, lebenslange Phobien entwickeln könnten, aber die Forschung hat wenig oder gar keine Beweise für diese Befürchtung geliefert. Tatsächlich ergab eine Studie über Höhenangst, dass Kinder, die vor ihrem 9. Lebensjahr eine Verletzung durch einen Sturz erlitten hatten, im Alter von 18 Jahren seltener Höhenangst hatten als Kinder, die keine solche Erfahrung gemacht hatten (Poulton et al., 1998), und eine andere Studie fand keinen Zusammenhang zwischen der Erfahrung eines Wassertraumas vor dem neunten Lebensjahr und der Angst vor Wasser im Alter von 18 Jahren (Poulton et al., 1999).
Entwicklung von Mut
Jeder von uns erlebt irgendwann in seinem Leben echte Notfälle. Das sind Momente, in denen wir mutig sein müssen, um effektiv und entschlossen mit dem Notfall umzugehen, anstatt zu erstarren und hilflos zu kauern. Wenn Kinder auf eine Art und Weise spielen, die eine gewisse Gefahr und damit verbundene Angst mit sich bringt, können sie ein allgemeines Gefühl für Mut entwickeln. Wie Forscher/innen herausgefunden haben, werden junge Ratten und Affen, die keine Gelegenheit zum Spielen haben, zu Erwachsenen, die vor Angst erstarren und sich nicht anpassen können, wie andere Ratten und Affen, wenn sie einer neuen, potenziell gefährlichen Umgebung ausgesetzt sind (LaFreniere, 2011).
Ein kleines Mädchen, das aus eigenem Antrieb hoch genug auf einen Baum klettert, um eine gewisse Angst zu erleben, kommt mit einem Gefühl von Stolz und Können wieder herunter. "Ich habe es geschafft, ich bin da hochgeklettert und habe es überlebt!" Diese Erfahrung verringert nicht nur das Risiko, Akrophobie (Höhenangst) zu entwickeln, sondern kann zusammen mit anderen riskanten Spielen dazu beitragen, dass das Kind mit allen Arten von Gefahren im wirklichen (nicht spielerischen) Leben umgehen kann. Sie kann Angst empfinden und trotzdem ihren Geist und Körper kontrollieren, um effektiv zu handeln.
Das daraus resultierende Selbstvertrauen oder der Mut können ihr oder ihrem Kind in Zukunft das Leben retten. Auch die ganze Gemeinschaft profitiert von der Anwesenheit mutiger Menschen, so dass Mut auf lebensfördernde Weise sozial belohnt wird. Unter anderem bist du ein attraktiverer Partner, wenn du mutig bist, als wenn du es nicht bist. Wünschen wir uns nicht alle einen Partner, der sich den Gefahren des Lebens stellen kann, ohne zusammenzubrechen?
Lernen, mit dem Unerwarteten umzugehen
Vor allem aufgrund von Beobachtungen des Spiels bei nicht-menschlichen Säugetieren haben einige Forscherinnen und Forscher vorgeschlagen, dass das Spiel ein Mittel ist, um zu lernen, wie man mit dem Unerwarteten umgeht (Spinka, Newberry & Bekoff, 2001). Einige Formen des Spiels, sowohl bei Kindern als auch bei anderen jungen Säugetieren, beinhalten, dass man sich in Situationen begibt, in denen man nicht kontrollieren kann, was als nächstes passiert. Beispiele dafür sind, dass man einen verschneiten Hügel hinunterrutscht, ohne die volle Kontrolle über seine Bewegungen zu haben, oder dass man so herumtänzelt, dass man absichtlich aus dem Gleichgewicht gerät und nicht weiß, wie man landen wird, oder dass ein kleines Kind über Steine klettert, ohne zu wissen, welche Steine halten und welche rutschen werden. Riskante Spiele dieser Art scheinen die Prämisse zu verletzen, dass Spielen eine Übung in der Ausübung von Kontrolle ist. Hier kann es eine Übung darin sein, die Kontrolle zu verlieren und sich auf eine Überraschung nach der anderen einzustellen.
Ein Großteil des Lebens ist natürlich unvorhersehbar. Fast alles, was interessant ist, bedeutet, dass du dich in eine Situation begibst, in der du nicht sicher sein kannst, was als Nächstes passiert. Manche Menschen leben ein sehr eingeschränktes Leben und leiden darunter, dass sie Angst vor dem Unbekannten haben, Angst vor Situationen, in denen sie nicht die volle Kontrolle haben. Einige Formen des Risikospiels können also ein Weg sein, sich mit dem Unvorhersehbaren anzufreunden und dadurch offener für die Abenteuer des Lebens zu werden.
Toleranz gegenüber physiologischer Erregung
Manche Menschen leiden unter der Angst vor ihren eigenen physiologischen Reaktionen. Das scheint die Ursache für Panikattacken und Agoraphobie zu sein. Irgendetwas - vielleicht etwas Stressiges - aktiviert das autonome Nervensystem, so dass sich die Herzfrequenz erhöht. Das Herzklopfen und andere körperliche Reaktionen werden selbst zu einer Quelle der Angst. Manche nennen das Angst vor der Angst. "Mein Herz klopft, etwas Schreckliches passiert in mir, ich fühle mich, als würde ich explodieren."
Dodd und Lester (2021) sind der Meinung, dass ein Wert von lebhaftem, emotionsgeladenem Spiel darin liegt, dass es Kindern hilft, sich mit den autonomen physiologischen Reaktionen vertraut zu machen. "Mein Herz schlägt schnell, wenn ich schnell den Berg hinunterrutsche, aber kurz darauf wird es wieder langsamer." Riskantes Spielen kann dazu beitragen, die physiologische Erregung zu normalisieren, damit sie nicht selbst eine Quelle der Angst ist.
Übung in der Risikobewertung
Manche Menschen glauben, dass Kinder kein Gespür dafür haben, was riskant ist und was nicht, aber das sind Menschen, die Kinder noch nie wirklich beim riskanten Spielen beobachtet haben. Beobachtungsstudien zeigen, dass Kinder aller Altersstufen, vom Kleinkindalter an, dazu neigen, von Natur aus vorsichtig zu sein (z. B. Tangen, Olson, & Sandseter, 2022). Bevor sie sich auf eine riskante Aktivität einlassen, bewerten sie die Situation. Vielleicht schauen sie zuerst anderen dabei zu, oder sie testen vorsichtig. Sie klettern nur ein kleines Stück auf den Baum, und nachdem sie das mehrmals getan haben, gehen sie ein bisschen höher. Sie rutschen erst einen sanften Hang hinunter und arbeiten sich dann zu einem steileren hoch. Sie brauchen niemanden, der ihnen sagt, dass sie das tun sollen.
Während sie spielen und sich allmählich von weniger anspruchsvollen zu anspruchsvolleren Abenteuern vorarbeiten, denken sie darüber nach und lernen, was sie bewältigen können und was nicht. Einige Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass Kinder, die häufig und ausgiebig spielen, weniger unfallgefährdet sind als Kinder, die wenig Erfahrung mit solchen Spielen haben, vielleicht weil sie gelernt haben, mögliche Gefahren zu erkennen und darüber nachzudenken, was sicher ist und was nicht (Bloemers et al., 2012).
Entwicklung der körperlichen Kompetenz
Ich habe mich auf die psychologischen Vorteile von Risikospielen konzentriert, aber es gibt auch einen offensichtlichen körperlichen Vorteil. Risikospiel ist oft eine körperliche Herausforderung. Es erfordert nicht nur emotionale Kontrolle, sondern auch Kraft, Ausdauer und Koordination, um sich auf einem Baum von Ast zu Ast zu ziehen, einen felsigen Hügel hinaufzuklettern oder einen schnellen Schlitten zu steuern.
Ein abschließender Gedanke
Vielleicht muss ich das nicht betonen, weil es offensichtlich sein sollte, aber .... Wenn man bedenkt, wie sehr unsere Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten aus Sicherheitsgründen die Möglichkeiten der Kinder zum riskanten Spielen eingeschränkt hat, ist es dann eine Überraschung, dass Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene heute in einem Rekordmaß unter Angstzuständen, Gefühlen der Hilflosigkeit und schlechter körperlicher Fitness leiden? Das Bild eines Spielplatzes aus dem frühen 20. Jahrhundert, das ich diesem Brief beigefügt habe, zeigt, dass wir nicht immer so viel Angst davor hatten, Kinder Risiken eingehen zu lassen. In Gray, Lancy & Bjorklund (2023) wird erklärt, wie der Entzug aller Arten von selbstbestimmtem Spiel zu psychischen Ängsten führen kann.
Anmerkungen
Wenn du Fragen oder Gedanken zu diesem Brief hast, kannst du sie gerne kommentieren. Ich werde alle Kommentare lesen und antworten, wenn ich etwas Nützliches hinzufügen kann.
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Referenzen
Bloemers, F., Collard, D., Paw, M. C. A., Van Mechelen, W., Twisk, J., & Verhagen, E. (2012). Physical inactivity is a risk factor for physical activity-related injuries in children. British Journal of Sports Medicine, 46(9), 669–674.
Dodd, H.F., & Lester, K.J. (2021). Adventurous play as am echanism for reducing risk for child anxiety: A conceptual model. Clinical Child and Family Psychology Review, 24, 164-181.
Gray, P., Lancy, D.F., & Bjorklund, D.F.. Decline in Independent Activity as a Cause of Decline in Children’s Mental Wellbeing: Summary of the Evidence. Journal of Pediatrics. In Press. 2023. Available here.
LaFreniere, P. Evolutionary functions of social play: Life histories, sex differences, and emotion regulation. Am. J. Play 2011, 3, 464–488
Poulton, R., Davies, S., Menzies, R. G., Langley, J. D., & Silva, P. A. (1998). Evidence for a non- associative model of the acquisition of a fear of heights. Behaviour Research and Therapy, 36, 537-544.
Poulton, R., Menzies, R. G., Craske, M. G., Langley, J. D., & Silva, P. A. (1999). Water trauma and swimming experiences up to age 9 and fear of water at age 18: A longitudinal study. Behaviour Research and Therapy, 37, 39-48.
Sandseter, E. (2011). Children’s risky play from an evolutionary perspective. Evolutionary Psychology, 9, 257-284.
Sandseter, E., Kleppe, R., & Kennair, L. (2023). Risky play in children’s emotion regulation, social functioning, and physical health: An evolutionary approach. International Journal of Play, 12, 127-139.
Spinke, M., Newberry, R., & Bekoff, M. (2001). Mammalian play: Training for the unexpected. The Quarterly Review of Biology, 76, 141-168.