Aufgezwungene Struktur
Aus dem Buch "Helping the Butterfly Hatch" von Je'anna Clements (Deutsche Übersetzung Max Sauber)
Eine aufgezwungene Struktur ist etwas, wo der junge Mensch gezwungen, ausgetrickst, unter Druck gesetzt, bestochen, verführt oder anderweitig manipuliert wird, damit er diese annimmt und einhält.
Wenn man sich noch im "Deschooling" (Entschulung) befindet, ist es leicht, dies zu verwechseln.
Ich habe schon Familien erlebt, die mir sagten, dass sie "Unschooling" (Anmerkung des Übersetzers: Im Deutschen Sprachraum auch oft als “Freilernen” bezeichnet) praktizieren, obwohl sie damit nur meinten, dass sie ihr Kind aus der Schule genommen haben und stattdessen einen Nachhilfelehrer für Lesen und Mathematik - oder ein Nachhilfezentrum - haben, wo das Kind das tut, was es "muss", und der Rest der Zeit frei ist.
Wenn ein junger Mensch unter Druck gesetzt wird, an einer Veranstaltung teilzunehmen - selbst wenn es sich um eine "lustige" Freizeitaktivität handelt - dann ist das eine aufgezwungene Struktur.
Um das Beispiel eines jungen Menschen, der lesen lernt, in einer aufgezwungenen Struktur zu verpacken:
Man lehrt sie lesen, ob sie wollen oder nicht, oder man lehrt sie lesen, indem man eine Methode und einen Zeitplan anwendet, auf die sie keinen Einfluss haben.
Oder sie werden von den Eltern unter Druck gesetzt: "Ich habe für die …-Mitgliedschaft bezahlt, also musst du diese jetzt nutzen."
Selbst wenn die aufgezwungenen Aktivitäten "Spaß" machen und auf "kindgerechte", "kreative", "spielerische" oder "bunte" Weise durchgeführt werden, sind sie nicht selbstbestimmt. Das liegt daran, dass der junge Mensch, wenn er eine echte Wahl hätte, etwas anderes tun würde.
Es ist wichtig, sich darüber im Klaren zu sein, dass junge Menschen, die eine aufgezwungene Lernstruktur einhalten, weil sie versuchen, zu gefallen, eine offene oder subtile Belohnung zu erhalten, eine Bestrafung zu vermeiden oder ihre eigenen Ängste in Bezug auf die Selbstbestimmung zu überwinden, nicht zur Selbstbestimmten Bildung gehören.
An dieser Stelle ist “Deschooling” (Entschulung) wichtig. Erst wenn junge Menschen die Möglichkeit hatten, loszulassen, zu heilen und darauf zu vertrauen, dass es sicher ist, zu spielen, haben sie eine echte Wahl. Wer nicht “Nein" sagen kann, kann auch nicht wirklich “Ja" sagen.
An dieser Stelle hören wir oft einen Sturm des Protests:
"Wenn sie bis zum Alter von 7 Jahren nicht lesen können, könnte ich das Sorgerecht verlieren";
"Wenn sie unsere traditionelle Sprache nicht lernen, werden unsere Schwiegereltern sie verstoßen";
"Wenn sie nicht am Katechismus teilnehmen, werden wir in unserem Dorf zu Ausgestoßenen".
Welche anderen Beispiele fallen dir ein, bei denen der Druck von außen die Strukturen diktiert, die wir und unsere jungen Menschen übernehmen?
Echte Selbstbestimmte Bildung ist aus bestimmten Gründen nicht immer möglich.
Es gibt Umstände wie die oben genannten, die es wirklich als kleineres Übel erscheinen lassen, junge Menschen zu zwingen, gegen ihren Willen zu lernen.
Wir sind es den jungen Menschen jedoch schuldig, wirklich unser Bestes zu tun, um diese Umstände zu ändern, anstatt die Umstände zu nutzen, um unsere eigenen Ängste zu rationalisieren.
Und die Tatsache, dass echte Selbstbestimmte Bildung aus bestimmten Gründen nicht immer erfüllbar ist, ist kein Grund, die Fakten darüber, was echte Selbstbestimmte Bildung ist und was nicht, zu verdrehen.
Selbstbestimmte Bildung bedeutet Bildung, die von einem selbst gesteuert wird.
Wenn die Umstände, die Eltern, die Betreuer, die Verantwortlichen der Gemeinschaft oder die Regierung die Richtung vorgeben, dann ist das nicht selbstbestimmt.
Es kann einen triftigen Grund geben, Selbstbestimmte Bildung mit Zwangsbildung (Anmerkung des Übersetzers: Im Original Coercive Education. Dies könnte auch mit Pflicht Bildung oder Beschulung übersetzt werden) im Leben eines jungen Menschen zu vermischen. Je mehr Selbstbestimmte Bildung, desto mehr kann diese sich einleben und wirken. Je mehr Zwangsbildung, desto mehr wird die Selbstbestimmte Bildung untergraben.
"Eigenermächtigung ist wie ein Muskel: stärker mit Arbeit, schwächer ohne. Genauso wie körperliche Inaktivität die Muskeln schwächt, schwächt die chronische Einschränkung der Wahl- und Handlungsmöglichkeiten von Kindern ihre Fähigkeit zu wählen und zu handeln." - Jim Rietmulder, When Kids Rule The School.
Glücklicherweise können Muskeln wieder stärker werden, wenn wir uns ausruhen, sie heilen und sie dann wieder regelmäßig benutzen, so wie junge Menschen die Schule verlassen und ihre Fähigkeit zur Selbstbestimmung wiedererlangen können.
Wenn du einem jungen Menschen begegnest, der Zwangsbildung erleiden muss und nicht aus seinen Umständen befreit werden kann, kannst du dennoch einen bedeutenden positiven Einfluss ausüben, indem du ihm so viel Selbstbestimmte Bildungs-Erfahrung wie möglich in seinen zusätzlichen Stunden ermöglichen.
Ein paar Stunden echte Freiheit in der Natur und/oder Unterstützung bei einem selbstgewählten "Hobby" haben schon so manchem jungen Menschen geholfen, seine ansonsten destruktive Ausbildung zu überleben, indem sie diesen Handlungsmuskel vor dem völligen Verkümmern bewahrt haben.
Das ist auch der Grund, warum ich Ideen wie Derry Hannams 20 %-Plan unterstütze, in dem er allen Regierungen empfiehlt, mindestens 20 % der Schulwoche dafür vorzusehen, dass junge Menschen ihren eigenen Interessen nachgehen können. (In Derry Hannams Buch “Another Way Is Possible” findest du einen inspirierenden Bericht über seine eigenen Erfahrungen als Lehrer an öffentlichen Schulen).
Wir versuchen nicht, irgendetwas anzugreifen, das nicht ideal ist; vielmehr wollen wir das, was optimal ist, für immer mehr junge Menschen möglich machen, bis das Ideal erreicht ist. Aber wir müssen achtsam sein und uns des Risikos bewusst sein, das wir jedes Mal eingehen, wenn wir riskieren, intrinsische Motivation in kontrollierte Motivation zu verwandeln. (siehe dazu die Podcast Episode über Motivation )
Eine Faustregel, die ich Eltern empfehle, lautet: Der Zeitpunkt für die endgültige Anmeldung zu strukturierten Kursen oder regelmäßigen außerschulischen Aktivitäten ist dann gekommen, wenn die Jugendlichen fragen: "WANN organisierst du (AKTIVITÄT EINFÜGEN) für mich? Warum dauert das so lange?!?!", und nicht vorher. Intrinsische Motivation verwandelt sich leicht in kontrollierte Motivation, wenn ein Elternteil denkt, dass es eine gute Idee ist, wenn ein junger Mensch etwas tut, ihn beim ersten Anzeichen von Interesse irgendwo anzumelden. Wohlmeinende Eltern können unwissentlich genau das Verhalten auslöschen, das sie eigentlich unterstützen wollten.
Die Quintessenz der Selbstbestimmten Bildung ist, dass junge Menschen immer die Möglichkeit haben sollten, jederzeit aufzuhören.
Je’anna Clements, Helping the Butterfly Hatch