"OK You're certified", sagte der freundliche zwölfjährige Junge. In den 25 Jahren, in denen ich mich für die Demokratisierung von Schulen einsetze, habe ich diese Worte oft gefürchtet, doch als sie endlich ausgesprochen wurden, war der Kontext reizvoll. Ich war zu Besuch an der Sudbury Valley School in Framingham, Massachusetts.
Die Einführungstour führte uns in den Musikraum. Als ehemaliger Jazzmusiker habe ich den Zwang, Musikinstrumente auszuprobieren. Als ich den wunderschönen Flügel öffnete, fragte mein Führer höflich: " Bist du dafür zertifiziert? Ich will dich nicht melden müssen!' Er erklärte mir, dass jeder Fachbereich der Schule von einer "AG" aus Schülern und Mitarbeitern geleitet wird, die ein besonderes Fachwissen und Interesse an diesem Bereich haben. Ich brauchte ein Mitglied der Musik-AG, das mir das Klavierspielen zertifizierte, bevor ich es spielen durfte. Ich fragte, wer das tun könnte.
"Nun, ich kann das", sagte er. "Ich bin Bratschist. Spiel mir etwas, das du liebst."
Acht Takte von Satin Doll später - "Das ist wirklich schön. Okay, du bist zertifiziert!" Er setzte meinen Namen auf die Liste der musikalisch Zertifizierten und in diesen wenigen Momenten lernte ich eine Menge über diese wahrhaftig und bemerkenswert demokratische Schule.
Wäre ich nicht zertifiziert worden, hätte man mich vor das JC - Judicial Committee - (Justizkomitee) gestellt, weil ich gegen eine der vielen Schulregeln verstoßen hätte, die alle von der Schulversammlung oder der Fachgruppe nach dem Prinzip "eine Person, eine Stimme" beschlossen werden und die alle demokratisch geändert werden können. Der JC besteht aus Schülern, die verschiedene Altersgruppen vertreten, und einem Mitarbeiter. Die Geschäfte werden von zwei gewählten Schriftführern geführt, die immer ältere Schüler sind.
Das erste, was einem Besucher der Sudbury Valley School auffällt, ist, dass hier viele Menschen sind. Die Schule ist derzeit mit 210 Schülerinnen und Schülern im Alter von 4 bis 19 Jahren voll belegt und zum ersten Mal seit ihrer Gründung im Jahr 1968 überbelegt, und es gibt Pläne für Erweiterungen des Gebäudes. Doch obwohl es keine offensichtliche Aufsicht durch Erwachsene gibt, werden die Einrichtungen gut gepflegt, die Bibliothek ist in gutem Zustand, die Computer funktionieren und normalerweise sind die Räume einigermaßen aufgeräumt, obwohl alles ständig in Gebrauch ist.
David Gribble von der Sands School hatte mir gesagt: "Es wird sich anfühlen wie eine Pause, wenn du ankommst." Er hatte Recht - und es fühlte sich während der gesamten vierzehn Tage unseres Besuchs wie Pause an. Es gibt keinen von Lehrern organisierten Unterricht, sondern der gesamte Lehrplan wird von den Schülern erstellt. Die vielen unterschiedlich großen Räume fühlen sich nicht wie Klassenzimmer an. Einzelne, kleine und nicht so kleine Gruppen von Schülern sind überall anzutreffen. Gelegentlich arbeiten sie zusammen mit einem Mitarbeiter (der nicht als Lehrer bezeichnet wird) an einem Thema, das von Algebra bis zum Apfelkuchenbacken reicht. Diese Tutorien/Seminare finden immer auf Wunsch der Schüler/innen statt, entweder einzeln oder in Gruppen, und oft sind die Gruppen altersgemischt. Die Aktivität dauert so lange, wie die Schüler/innen es für nötig halten. Wenn das Interesse der Schüler/innen nach zwei Sitzungen nachlässt, übt das Personal keinerlei Druck aus, damit der "Kurs" oder das "Projekt" zur Zufriedenheit der Erwachsenen abgeschlossen wird. In den USA gibt es glücklicherweise keine nationalen Prüfungen. Eine staatlich zugelassene Schule kann ihren eigenen Schulabschluss ausarbeiten. In Sudbury Valley besteht dieser aus einer verteidigten Abschlussarbeit, die vor einer Vollversammlung von Schülern, Lehrern, Eltern und Erziehungsberechtigten vorgetragen wird und die belegt, dass der Schüler bereit ist, die Schule zu verlassen und in der großen weiten Welt zurechtzukommen.
Von der Bewertung, Aufzeichnung und Berichterstattung durch Ofsted (Anmerkung des Übersetzers: Ofsted steht für “Office for Standards in Education, Children’s Services and Skills” also die Schulinspektion in Großbritannien) gibt es keine Spur. Es gibt keinerlei formale Bewertung der Arbeit der Schüler/innen. Es werden keine Aufzeichnungen über die Leistungen und Fortschritte der Schüler geführt und keine Berichte an die Eltern erstellt. Derzeit gibt es zehn Mitarbeiter, aber viele von ihnen sind Teilzeitkräfte. Ihre Verträge werden jährlich überprüft und die Schüler/innen entscheiden in einer geheimen Abstimmung, wer verlängert wird und für wie viele Tage pro Woche. Obwohl die Gebühren im Vergleich zu US-amerikanischen oder britischen Standards niedrig sind, ist die Schule in guter finanzieller Verfassung. Die Zusammenarbeit mit der Schulbehörde der Stadt Framingham ist eng und unterstützend. Ungefähr die Hälfte der Schüler/innen sind " Lifers", das bedeutet, die Schule war ihre erste Wahl. Die andere Hälfte sind zumeist "Flüchtlinge", die zuvor die öffentlichen (staatlichen) Schulen vor Ort besucht haben, und ein oder zwei, die auf anderen Privatschulen waren. Die vielen Schülerinnen und Schüler, mit denen ich während meines ausführlichen Besuchs sprach, unterstützten die Schule voll und ganz, aber am beeindruckendsten waren die Kommentare einiger "Flüchtlinge". Viele nannten Mobbing als Hauptgrund für ihren Wechsel nach Sudbury Valley.
"Passiert das hier auch?" fragte ich.
"Das ist einfach nicht möglich", lautete die Antwort. "Die Mobber würden im JC zur Rede gestellt werden und es würde einfach aufhören. Wenn es dann immer noch nicht aufhört, wird der Fall vor der Schulversammlung verhandelt, und wenn es dann immer noch nicht aufhört, wird der Tyrann von der Schule verwiesen.
"Wann gab es den letzten Prozess wegen Mobbing?" fragte ich. Niemand konnte sich daran erinnern. Mehrere JC-Fälle, die ich beobachtete, betrafen die ersten Stadien des Mobbings - sie wurden alle gütlich, aber bestimmt beigelegt, nachdem beide Seiten fair befragt wurden.
Die erste Mitarbeiterin, die ich in der Schule traf, war Mimsy Sadofsky, eine der Gründerinnen. Ich stellte ihr die vorhersehbaren "Schulinspektor"-Fragen zur Alphabetisierung.
"Sie lernen lesen und schreiben, wann sie wollen und wann sie das Bedürfnis dazu haben", sagte sie. "Und niemand verlässt die Schule, ohne lesen und schreiben zu können, obwohl wir schon einige hatten, die es erst mit neun oder zehn Jahren gelernt haben. Obwohl wir statistisch gesehen unseren Anteil an potenziellen Legasthenikern haben, landesweit etwa 10 %, hatten wir in Sudbury Valley noch nie einen legasthenen Schüler. Sie finden es selbst heraus, wenn sie nicht von Erwachsenen unter Druck gesetzt oder abgestempelt werden."
Ich habe Danny Greenberg, einen weiteren Gründungsmitarbeiter und Philosophen der Schule, gefragt, was aus den ehemaligen Schülerinnen und Schülern wird, wenn sie die Schule verlassen. Er verwies mich auf "Legacy of Trust", die jüngste und umfangreichste von zwei Langzeitstudien über ehemalige Schüler/innen von Sudbury Valley, die bis zum ersten Jahrgang 1968 zurückreichen. Fast alle haben ihr Leben auf ihre Weise erfolgreich gestaltet und blicken auf die SVS als eine Zeit zurück, die wirklich zu ihnen gehörte und nicht als etwas, das ihnen von Lehrern oder einem nationalen Lehrplan aufgezwungen wurde. Es ist eine spannende Lektüre!
Derry Hannam
Dieser Artikel erschien ursprünglich in den Education Now News and Review, 11, Frühjahr 1996. Er wurde vollständig zitiert auf S. 116/117 in Meighan, R., und Harber, C. "A Sociology of Educating" London:Bloomsbury