1.2 Die Grenzen der Selbstbestimmten Bildung
1.2.1 Was ist die Definition von Selbstbestimmter Bildung?
"Man kann niemanden zwingen, etwas zu lernen - man kann jemandem nicht wirklich etwas beibringen - er muss es lernen wollen. Und wenn sie lernen wollen, werden sie es tun.”
Daniel Greenberg
Wir leben in einer Zeit, in der die Menschen genauso erbittert um die Definition von Wörtern streiten, wie sie einst um die Kontrolle von Landstrichen gerungen haben - und manche Wörter scheinen so oft den Besitzer zu wechseln wie London vor 1066.
Verschiedene Bildungsgruppen mit unterschiedlichen Interessen behaupten alle, sie seien "kinderfreundlich", "natürlich" und sogar "selbstbestimmt".
Deshalb ist es wichtig, sich klar zu machen, worum es in diesem Text geht, damit wir uns nicht nur auf unsere Annahmen darüber verlassen können, was "Selbstbestimmte Bildung" derzeit bedeutet, sondern auch genau wissen, welchen Bildungsansatz wir mit diesem Text unterstützen können, um die Bildung zu begleiten.
Selbstbestimmte Bildung ist der "Prozess des Erwerbs von Wissen, Werten und Fähigkeiten, die zu einem befriedigenden und sinnerfüllten Leben beitragen. Als solcher ist Bildung ein natürlicher, überall und jederzeit stattfindender Entwicklungsprozess, der mit der Geburt beginnt und das ganze Leben lang andauert." - Scott Noelle.
"Selbstbestimmte Bildung ist Bildung, die aus den selbstgewählten Aktivitäten und Lebenserfahrungen der zu bildenden Person entsteht, unabhängig davon, ob diese Aktivitäten bewusst zum Zweck der Bildung gewählt wurden oder nicht." - Peter Gray
Selbstbestimmte Bildung ist also für niemanden von uns etwas Neues. Sie ist so alt wie die menschliche Spezies und wird von allen Menschen auf der Erde praktiziert, und zwar genau jetzt!
Mit Selbstbestimmter Bildung lernen wir am Anfang unseres Lebens zu gehen und zu sprechen, und später lernen wir, unser Handy zu bedienen.
Was für die meisten von uns neu ist, ist die Vorstellung, dass Selbstbestimmte Bildung ausreicht, um alle Bildungsbedürfnisse der Menschen jeden Alters zu erfüllen.
Leider haben einige Autoren der Selbstbestimmten Bildung die Selbstbestimmte Bildung als eine alternative "Pädagogik" bezeichnet. In Wirklichkeit ist sie aber gar keine "Pädagogik".
Hier ist eine kurze Übersicht über das pädagogische Kontinuum.
Pädagogik>>>>Andragogik>>>>Heutagogik //// /// Selbstbestimmte Bildung
Pädagogik ist ein Wort, das die meisten von uns kennen, und für viele ist es das einzige dieser Wörter, das ihnen vertraut ist. Das hat dazu geführt, dass es in der Diskussion über Selbstbestimmte Bildung verwendet wird. Der Begriff "Pädagogik" beschreibt jedoch eine Reihe von erzieherischen Strategien, die eine Lehrkraft einsetzt, um Kinder zum Lernen zu bringen. Pädagogik bedeutet wörtlich "Kinder führen". Der Lehrplan, die Methoden, der Zeitplan usw. sind vorgegeben. Die Lehrkraft führt und das Kind folgt.
Andragogik bedeutet wörtlich "Erwachsene führen". Es ist immer noch die Lehrkraft, die die Führung übernimmt, aber da Erwachsene in unserer Zeit mit mehr Respekt behandelt werden als Kinder, erlaubt die Andragogik mehr Autonomie. Die Andragogik geht davon aus, dass Menschen innerlich motiviert sind, dass sie verstehen müssen, warum sie sich etwas aneignen müssen, und dass sie individuelles, erfahrungsbasiertes, problemorientiertes Lernen bevorzugen, bei dem die Lehrkraft sie durch "lehrbare Momente" begleitet und anleitet, während sie persönlich relevante Lernprojekte verfolgt. Auf Jugendliche und nicht auf Erwachsene angewandt, nennt man das "Progressive Bildung”(Reformpädagogik). Einige Autoren haben dies leider als "Selbstbestimmtes Lernen" bezeichnet, doch die Lehrplaninhalte, Methoden, Zeitplanung usw. ergeben sich aus der Beziehung zwischen Lehrkraft und Schüler/in innerhalb eines vorgegebenen Rahmens und sind daher keine Selbstbestimmte Bildung.
Heutagogik bedeutet wörtlich übersetzt, dass die Schüler/innen selbst entdecken können. Sie konzentriert sich auch auf die Metaebene, das selbstreflektierende Lernen und das Lernen unabhängig von der Anwesenheit eines Lehrers. Es wäre ein wunderbares Wort für die Selbstbestimmte Bildung, aber leider wird es bereits von Leuten verwendet, die an Lernverträge, "flexible" Beurteilungen und daran glauben, dass Schüler/innen ihre eigenen Lernprozesse in einer "Doppelschleife" erforschen. Der Inhalt des Lehrplans, die Methoden, der Zeitplan usw. werden von den Lernenden in einem relativ festen Kontext entwickelt, der Lehrer/innen und Lernbegleiter/innen einschließen kann oder auch nicht, aber die Meta-Lernziele werden immer noch von Forschern/innen und Lerntheoretikern/innen definiert und sind somit für die jungen Menschen nicht nachvollziehbar und werden von außen kontrolliert und bewertet.
Warum habe ich die Selbstbestimmte Bildung nicht direkt auf das Kontinuum nach der Heutagogik gesetzt? Weil ich glaube, dass sich die Selbstbestimmte Bildung in einem wichtigen Punkt grundlegend von all diesen Ansätzen unterscheidet.
Bei der Pädagogik, der Andragogik und sogar der Heutagogik geht es darum, dass Lehrer/innen, Forscher/innen oder Lerntheoretiker/innen herausfinden, was die Schüler/innen optimal lernen müssen.
Die Pädagogik am einen Ende des Spektrums geht davon aus, dass die Schüler/innen das lernen müssen, was der Lehrplan vorschreibt. Die Heutagogik lässt eine enorme Freiheit, wenn es um die Inhalte geht, will aber trotzdem sicherstellen, dass die Schüler/innen bestimmte Metaebenen des Prozesses lernen.
Die Selbstbestimmte Bildung verzichtet darauf, dass jemand anderes entscheidet, was für andere Menschen wichtig ist.
Bei der Selbstbestimmten Bildung entsteht das Lernen im Inneren des Menschen, der in flexible Kontexte eingebettet ist, die er je nach seinen Bedürfnissen beeinflussen oder sogar komplett verändern kann. Obwohl sich die gleichen Metafähigkeiten, die in der Heutagogik ausgezeichnet werden, auch bei der Selbstbestimmten Bildung entwickeln, liegt das nicht daran, dass jemand anderes diese Ziele für diese Menschen festgelegt oder versucht hat, Lernmethoden zu entwickeln, die sie dazu bringen, diese Fähigkeiten zu beherrschen. Es steht ihnen auch völlig frei, diese Fähigkeiten nicht zu beherrschen, wenn sie es persönlich nicht nötig haben.
Gleichzeitig bietet die Gemeinschaft der Selbstbestimmten Bildung, in die sie eingetaucht sind, nicht nur Unterstützung, sondern auch reale Anreize, die die Menschen dazu inspirieren können, ihre tatsächlichen Lernbedürfnisse zu entdecken.
Die Selbstbestimmte Bildung gibt die Kontrolle von außen ab und überlässt den gesamten Lernprozess den Menschen. Bei der Selbstbestimmten Bildung gibt keine externe Person den "Plan" der Menschen vor, oder das Fehlen eines solchen. Keine externe Person coacht den Menschen, es sei denn, der Mensch bittet sie ausdrücklich darum. Keine externe Person beurteilt oder bewertet die Fortschritte des Menschen. Der Mensch ist voll und ganz für sein eigenes Lernen verantwortlich.1
Aus diesem Grund ist die Selbstbestimmte Bildung für mich persönlich sinnvoll.
Die Selbstbestimmte Bildung unterstützt jeden Einzelnen bei der Entfaltung seines persönlichen Potenzials, unabhängig davon, ob die anderen Menschen in seinem Umfeld den Wert seiner Bemühungen erkennen oder nicht.
Es ist ein Bildungsansatz, der uns von Vorurteilen und kultureller Voreingenommenheit befreit und es jedem einzelnen Menschen ermöglicht, wirklich zu sein.
Die Alliance for Self-Directed Education (ASDE) definiert Selbstbestimmte Bildung als "Bildung, die aus den selbstgewählten Aktivitäten und Lebenserfahrungen der zu bildenden Person entsteht... die Summe all dessen, was eine Person lernt, um ein zufriedenstellendes und sinnvolles Leben zu führen."
Da "befriedigend und sinnvoll" etwas völlig Subjektives und Persönliches ist, bedeutet dies, dass jeder Mensch eine ganz eigene Bildung hat.
Die komplette Deutsche Übersetzung von “Helping the Butterfly Hatch Buch 1” ist nur mit einem bezahlten Abo verfügbar.
(Für diejenigen, die sich für Lerntheorien interessieren, gibt es hier eine Ostereiersuche: Entspricht dieser 4-stufige Übergang von der Pädagogik zur Selbstbestimmten Bildung möglicherweise den "logischen Stufen" von Bateson? Könnte es sein, dass der Wechsel zur Selbstbestimmten Bildung für viele Menschen so schwer zu verarbeiten ist, weil es sich um einen Sprung auf Stufe IV handelt?)