#2 Was ist eigentlich Dyslexie?
Was wäre, wenn Schule Legasthenie verursacht? von Je’anna L Clements
Die einfacheren Definitionen von Dyslexie sind verbunden mit der Vorstellung einer Störung, die die Fähigkeit zu lesen beeinträchtigt. Auf Deutsch nannte man es früher auch „Wortblindheit“. Heute wissen wir, dass es viel mehr ist als das.
Auf der einen Seite kann Dyslexie mit einer Reihe von Schwierigkeiten einhergehen, die sich sowohl auf das Lesen als auch auf die Rechtschreibung auswirken. Es ist eine Art der Wahrnehmung, Verarbeitung und Speicherung von Informationen, die zu Schwierigkeiten führen kann, die Verbindung zwischen Buchstaben und Buchstabenkombinationen und den dazugehörigen Lauten zu verstehen. Zum Beispiel kann es zum Verdrehen von Wörtern und Vertauschen von Buchstaben kommen das ist das „Symptom“, das die meisten Menschen mit Legasthenie verbinden. Es kann eine Tendenz zum Vorhersagen oder Raten bestehen, anstatt zu lesen, was auf der Seite steht, oder dazu, kurze Wörter wie „als“ und „zu“ zu überspringen oder falsch zu lesen, und stärkeren Problemen mit abstrakten Wörtern als mit Substantiven. Das Merken von „Sichtwörtern“ kann erschwert sein sogar nur bis zur folgenden Seite. Lesen kann anstrengend sein, und selbst wenn man es scheinbar beherrscht, können Defizite beim Verständnis des Gelesenen auftreten.
Kurz gesagt, Dyslexie kann es fast unmöglich machen, einem jungen Dyslektiker das Lesen beizubringen, und wenn das Lesen doch erlernt wird, kann Dyslexie in der Schule immer noch dazu führen, dass es fast unmöglich ist, die Textmengen zu verarbeiten, die erforderlich sind, um mit dem Lehrplan und den Klassenarbeiten mitzukommen. Und selbst dann, wenn das Lesen erfolgreich gemeistert wird, können Dyslektiker noch Probleme mit der Rechtschreibung haben ein Wort zuverlässig und wiederholt lesen zu können, bedeutet nicht, die korrekte Schreibweise des Wortes abrufen zu können. Dyslexie kann auch auswendig Lernen, Merkfähigkeit und Konzentration beeinträchtigen, die im heutigen Schulsystem unverzichtbar sind.
Früher hat man geglaubt, dass es nur Nachteile gibt - daher die Bezeich- nung DYS-Lexie. Das griechische ‚dys‘ mit ‚schlecht‘, ‚Schwierigkeit‘, ‚krankhaft‘, ‚abnormal‘ und ‚fehlerhaft‘ übersetzt werden, ‚lexia‘ ist ‚Wort‘ oder ‚Sprache‘.
Früher (und auch heute noch) sind Leute erstaunt, wenn Dyslektiker „trotz“ ihrer Dyslexie beruflich sehr erfolgreich waren.
In den letzten Jahrzehnten hat man zunehmend festgestellt, dass Menschen wie Richard Branson, Steven Spielberg, Cher, Walt Disney und Albert Einstein nicht trotz ihrer Dyslexie erfolgreich sind, sondern eher wegen ihrer Dyslexie.
Dyslexie hat noch eine andere, sehr positive Seite.
Dyslektische Gehirne kämpfen manchmal gerade deswegen mit den zwei Dimen- sionen von symbolischem und standardisiertem Text, weil sie auf Fähigkeiten wie z. B. mehrdimensionales Verarbeiten, das Herstellen von Verbindungen und kreatives Vorstellungsvermögen spezialisiert sind. Manche Berufe, wie Schauspielerei und Filme machen, Ingenieurwesen, Musik und Kunst sind besonders geeignet für dyslektisch Begabte. Viele Dyslektiker glänzen auch beim Sport, als Unternehmer oder auf verschiedenen Gebieten von Innovationen.
Stellen Sie sich jemanden vor, der einen Sportwagen im höchsten Gang fährt, sich dabei aus dem Fenster lehnt und Hundeleinen festhält, um die Hunde auszuführen. Das Auto würde ins Stocken geraten. Man könnte annehmen, dass es kaputt sei, obwohl es in Wirklichkeit gezwungen ist, langsamer zu fahren, als es in diesem Gang sinnvoll ist.
Dyslektische Gehirne verfügen über einen Hochleistungsmodus, der bis zu einem gewissen Grad abgeschaltet werden muss, wenn sie sich mit einem platten, abstrakten Text beschäftigen. Wie der junge Mensch aus Fallstudie 2 sagte, muss er beim Lesen „einen Gang runter schalten“.
Diese zusätzlichen „Gänge“ zu haben ist keine Behinderung - ganz im Gegenteil. Wie der dyslektische Spitzenkoch Jamie Oliver betont, sollte man jungen Men- schen zu ihrem Glück gratulieren, wenn man herausfindet, dass sie dyslektisch sind! Daher setzen Dyslexie-Fürsprecher wie Oliver und Branson ihren Prominentenstatus ein, um die MadeByDyslexia Bewegung zu unterstützen und die öffentliche Wahrnehmung zu verändern.
Was „zusätzliche Gänge“ sehr wohl bedeutet, ist, dass Legastheniker ihr Leben am besten auf ihre eigene Art führen, anstatt zu versuchen, das zu tun, was für andere Menschen am besten funktioniert (was man eigentlich für eine ziemlich naheliegende Aussage halten sollte, die für jeden gilt, dyslektisch oder nicht. Tatsächlich denke ich, dass sie für alle gilt. Allerdings sind die Bildungsministerien der Welt offensichtlich anderer Meinung).
Wir wissen auch, dass Dyslektiker nicht immer ein Leseproblem haben.
Laut Selbsttest auf www.madebydyslexia.org bin ich, die Autorin dieses Textes, „wahrscheinlich dyslektisch“. Dyslexie tritt familiär gehäuft auf, und die Reaktion meines Vaters auf die Lektüre der Entwurfsfassung dieses Buches war die Erkennt- nis, dass er ein nicht diagnostizierter Dyslektiker mit Dyskalkulie ist. Ich selbst konnte jedoch schon lesen, bevor ich in die Schule kam (dazu später mehr). Meine Rechtschreibung ist ausgezeichnet, ich habe die Schule mit dem Englischpreis meines Jahrgangs verlassen und gehörte bei einer nationalen „Olympiade“ in Englisch zu den 100 besten Schülern meines Jahrganges. Trotzdem werde ich im Hinblick auf meinen IQ als „Underachiever“ betrachtet, habe eine grässliche Handschrift und es noch nie geschafft, ein Zimmer ordentlich zu halten, egal wie sehr ich mich bemühe. Ich hatte auch Probleme mit der Art und Weise, wie Mathematik in der Schule gelehrt wird, und schaffte es nur dank viel harter Arbeit und Nachhilfe gerade so, die Prüfung zu bestehen. Nur um dann an der Universität festzustellen, dass meine mathematischen Fähigkeiten tatsächlich im obersten Perzentil liegen - und ich sowohl in Logik als auch in Statistik zu den Besten meiner Klasse gehörte. Ich werde kein E-Book mit dem Titel „What If School Creates Dyscalculia“ schreiben - ich verweise lieber auf Paul Lockharts „A Mathematician’s Lament“ (nicht auf Deutsch verfügbar, etwa: Klagelied eines Mathematikers).
Schätzungen über die Häufigkeit von Dyslexie gehen weit auseinander, aber unabhängig davon, ob die Wahrheit eher bei 5% oder bei 20% liegt, so oder so betrifft es einen großen Teil der Menschheit. Wenn man darüber nachdenkt, be- deuten diese Prozentsätze, dass Dyslektikergehirne nur ein bisschen ungewöhnlich sind, nicht wirklich „abnormal“ im Sinne des Wortes. Dyslexie ist viel häufiger, als von Natur aus rote Haare zu haben. Möglicherweise ist sie sogar häufiger als blaue Augen. Vielleicht sogar häufiger, als Linkshänder zu sein (ein weiteres
„Problem“, das größtenteils im schulischen Zusammenhang existiert).
Wenn ich also einräume, dass Dyslexie an sich existiert, warum schreibe ich dann ein Buch mit einem Titel, der impliziert, dass es sich eventuell nur um eine Nebenwirkung der Schule handelt?
Kehren wir zum Anfang des Buches zurück.
Die Sudbury Valley School (SVS) hatte in mehr als fünfzig Jahren keinen einzigen Fall von Legasthenie. Statistisch betrachtet sollten es mehr als hundert sein.
Wenn man bedenkt, wie viele junge Menschen erst bei der SVS landen, wenn sie in der Regelschule nicht zurechtgekommen sind, sollten es VIEL mehr als einhundert sein!
Aber sie hatten noch nie einen Fall von Legasthenie.
Nicht einen einzigen.
Wir müssen uns ansehen, wie das sein kann und was Beschulung damit zu tun haben könnte.
Eines der am weitesten anerkannten Modelle der Legasthenie ist das dreistufige Modell, das von Uta Frith entwickelt wurde. Es beschreibt, dass auf biologi- scher Ebene oft eine genetische Ursache vorliegt, die auf kognitiver Ebene zu spezifischen Verarbeitungsdefiziten führen kann, welche auf der Verhaltensebene zu schlechten Leistungen beim Lesen und Schreiben führen. Für mich ist der entscheidende Punkt, dass Frith die Tatsache unterstreicht, dass es „eine große Kluft zwischen Gehirn und Verhalten gibt, und dass äußere Einflüsse das klinische Bild beeinflussen.“ 1
Was, wenn die Antwort auf die Frage, wie die SVS seit über 50 Jahren dauerhaft frei von Legasthenie sein kann, in der Untersuchung dieser „äußeren Einflüsse“ zu finden ist?
Nicht alle Dyslektiker haben Probleme mit dem Lesen lernen (wie z. B. mögli- cherweise ich selbst). Um die Untersuchung des vor uns liegenden Mysteriums zu erleichtern, wäre es deswegen dem Zweck dieses Textes vielleicht dienlich, folgendes zu unterscheiden:
• Dyslexie - eine dyslektische Neurologie, die zum großen Teil vorteilhaft ist und
• DYSlexie - „Fälle“ von Dyslexie, die mit erheblichen Lese- oder andere Problemen einhergehen - auch bekannt als „Legasthenie“.
In der Sudbury Valley School muss es Dyslexie gegeben haben! Warum sind sie nie mit Legasthenie konfrontiert worden?
Paradoxes in the definition of dyslexia, December 1999 Dyslexia 5(4) DOI: 10.1002/(SICI)1099-0909(199912)5:43.0.CO;2-N