#3 Warum ist das wichtig? Die kurzfristigen und lebenslangen Folgen von Dyslexie
Was wäre, wenn Schule Legasthenie verursacht? von Je’anna L Clements
Schauen wir uns zwei Menschen an, die im Abstand von wenigen Monaten geboren wurden - zum Beispiel mich und Kunstweltlegende und Filmemacher Sir Steven McQueen. Vielleicht wurde ich mit einem dyslektischen Gehirn geboren und er mit einem legasthenen (dysfunktionalen) Gehirn und das war’s dann auch schon. Vielleicht ist sein legasthenes Gehirn sogar der Grund dafür, dass er ein Sir und eine Legende ist und ich nicht!
ODER
Vielleicht habe ich Legasthenie nie entwickelt, Sir Steve aber schon - aufgrund von anderen Faktoren in unserem Leben. McQueen musste eine Augenklappe tragen, weil er ein „faules Auge“ hatte. Ich hatte keine. McQueen hatte in der Schule mit systematischem Rassismus zu kämpfen. Das hatte ich auch, aber ich war „weiß“. Und es gibt natürlich noch andere Faktoren - wer weiß, welche einen Unterschied gemacht haben, sowohl bei unserer relativen Dyslexie als auch zu unserer relativen Berühmtheit.
Wenn der Unterschied zwischen Legasthenie und Dyslexie nur eine Frage von Genen und Glück ist, dann können wir nicht viel dagegen tun. Wenn es sich aber um Faktoren handelt, die wir ändern können, dann ist das enorm wichtig.
Denn:
Es gibt eine riesige Bandbreite an möglichen Folgen von Legasthenie. Nicht jeder endet als Sir. Weniger bekannt als Sir Steve, aber mindestens genauso großartig ist der Gründer von www.noticeability.org, Dean Bragonier. Als Legastheniker und Vater eines jungen Menschen mit der gleichen Neurodivergenz glaubt Dean, dass Scham und Selbstwertgefühl für Legastheniker absolut entscheidend sind.
Er macht die Öffentlichkeit auf die beunruhigende Tatsache aufmerksam, dass Legastheniker zwar
35% der Unternehmer,
50% aller „Raketenwissenschaftler“ bei der NASA und erstaunliche
40% aller Selfmade-Millionäre ausmachen, jedoch auch
35% der Schulabbrecher,
50% der Jugendlichen in Drogen- und Alkoholentzugskliniken und
60-70% der sogenannten „jugendliche Straftäter“.
Junge Legastheniker leiden extrem oft an Depressionen und Angstzuständen.
Eine Studie über Strafgefangene in Texas ergab, dass etwa 80% der Insassen funktionale Analphabeten waren und fast 50% eindeutig als Legastheniker diagnostiziert werden konnten. 1
Nicht zuletzt haben Neil Alexander-Passe und andere bestätigt, dass Legastheniker ein deutlich höheres Risiko für selbstverletzendes Verhalten und Selbstmord haben. 2
Bragonier weist darauf hin, dass junge Menschen während der Teenagerjahre auf der Suche nach ihrem „Stamm“ sind, und die Gruppenidentität ist der Schlüssel zum Selbstwertgefühl. Wenn ein junger Legastheniker nicht das Glück hat, eine positive Gruppe Gleichaltriger zu finden, die auf gemeinsamen Interessen wie Sport oder Musik beruht, ist die „offensichtliche“ Gruppe für junge Menschen mit geringem Selbstwertgefühl die, die aus Leuten besteht, die hinterm Schuppen rauchen und in Ladendiebstähle verwickelt sind. Von dort kann es zu einer Abwärtsspirale kommen.
Diese Spirale kann sehr, sehr weit nach unten führen.
Lassen wir Sir Steve hinter uns und gehen wir ganz woanders hin.
Zu meiner Teenagerzeit in Südafrika waren nur wenige Kriminelle berüchtigter als der verrufene „Schraubenzieher-Vergewaltiger“ William Van Der Merwe. Nach seiner vorzeitigen Entlassung aus dem Gefängnis im Jahr 1989 nahm er Mord in sein Repertoire auf. Seinem letzten Opfer gelang es, ihn in Notwehr zu töten, indem es ihn mit seiner eigenen Waffe in einem komplizierten und sehr glückli- chen Manöver erschoss, während es mit auf dem Rücken gefesselten Händen am Boden lag. Sowohl seine Motive als auch seine Vergangenheit wurden eingehend untersucht. Er hatte behauptet, dass ihn das süchtig machende Gefühl der Macht über seine Opfer antrieb, was ihm half, seinen Gefühlen von Machtlosigkeit und Wut auf die Gesellschaft Ausdruck zu verleihen. Es gab viele andere negative Faktoren in seiner Vorgeschichte, so dass seine Legasthenie vielleicht nicht von Bedeutung ist. Jedoch betrachtete das Gericht sie als ausschlaggebend, als er dort mit 19 Jahren wegen versuchter Vergewaltigung zum ersten Mal erschien. Sie gaben ihm Bewährung unter der Bedingung, dass er sich wegen seiner Legasthenie behandeln lässt, um sein Selbstwertgefühl zu verbessern - vielleicht hätte das geholfen, aber wir werden es nie erfahren. Noch vor Ende des Jahres saß er wegen mehrerer Vergewaltigungen im Gefängnis. Hier ist ein ergreifendes Zitat, das seine Mutter aus seiner Kindheit berichtete: „Ich kann die Wörter nicht lesen. . . Der Lehrer ignoriert mich einfach. Die anderen Kinder lachen mich aus. Ich bin nicht interessiert. Ich will nicht in die Schule gehen.“ 3
Auf der einen Seite haben wir Sir Richard, Sir Steve, Sir Jamie, Dame Keira Knightly, Caitlyn Jenner, Whoopi Goldberg und viele andere mehr.
Auf der anderen Seite haben wir William Van Der Merwe und etwa die Hälfte - oder mehr - der örtlichen Gefängnisinsassen.
Vielleicht wurden Letztere alle mit einer von Natur aus kriminellen Form von Dyslexie geboren, und die Erstgenannten alle mit einer eher „positiven“ Form? Sir Steves Filme gehen an einige dunkle Orte, aber er neigt dazu, auf Ungerechtigkeit eher mit Gefühlen der Verletzung als mit Wut zu reagieren. 4
Ameer Baraka ist der Beweis dafür, dass kriminelle Dyslektiker ihr Leben umkrempeln können - und sogar zwischen diesen beiden Gruppen wechseln.
Ameer führt sein Leben als Krimineller bewusst auf seine Erfahrungen mit Dyslexie zurück. „Ich sitze da oben etwa 10 Minuten lang und blättere in einem Buch und verstehe kein einziges Wort. An diesem Tag wusste ich, dass ich Drogendealer werden würde“, beschreibt Baraka seine Schulerfahrung.
Nach einem gediegenen Start als verurteilter Straftäter hatte er ein Aha-Erlebnis, als er vier Jahre im Gefängnis saß. „Die Legasthenie hat mich geistig eingekerkert. In diesem mentalen Gefängnis zu leben, ohne das Entlassungsdatum zu kennen, war entsetzlich. Mich selbst davon zu überzeugen, dass ich lesen lernen kann, war eine Herausforderung, die ich einfach gewinnen musste.“ Also lernte er lesen. Er las Malcolm X. Er las über Mandela. Er erschuf sich eine positivere Identität. Er engagierte sich in der Schauspielerei. Er wurde aus dem Gefängnis entlassen, aber was noch wichtiger ist: er befreite sich selbst von der Legasthenie in die Dyslexie. Heute ist er Autor, Schauspieler und Dyslexie-Aktivist und einer von diesen Selfmade-Multimillionären.
Diese sehr unterschiedlichen potenziellen Folgen von Dyslexie machen es moralisch notwendig, dass wir etwas unternehmen.
Natürlich fällt eine beträchtliche Anzahl von Dyslektikern nicht in eines der Extreme. Sie sind keine Kriminellen, aber auch keine Berühmtheiten und wenden ihre Genialität in weniger auffälligen Berufen wie Paläontologie, Physik, Medizin, Recht, Lehre, Wirtschaft und mehr an (Wir wüssten nichts von Erin Brokovitch, wenn ihre Geschichte nicht verfilmt worden wäre). Selbst unter diesen Menschen gibt es viel zu viele, die mit unnötiger Scham und Angst leben und ihre Probleme vor Arbeitgebern und sogar vor Freunden verstecken.
Ganz abgesehen von der extremen und brutalen Ungerechtigkeit, Millionen von Menschen einem ungerechten Schicksal zu überlassen, das darin begründet ist, dass wir ihr Recht auf Bildung nicht ausreichend unterstützen, sollten wir auch das Gesamtbild betrachten.
Alternative: Es ist eine extreme und brutale Ungerechtigkeit, Millionen von Menschen einem ungerechten Schicksal zu überlassen, nur weil wir ihr Recht auf Bildung nicht ausreichend unterstützen. Darüber hinaus sollten wir auch das Gesamtbild betrachten.
Die Menschheit ist vom Aussterben bedroht. Selbst die günstigsten Szenarien beinhalten massenhaftes, andauerndes Leiden. Wir haben sehr viele Probleme zu lösen. Dyslektiker stellen einen großen Teil unserer Innovatoren nicht nur in der Kunst, sondern auch in den Wissenschaften und im sozialen Unternehmertum.
Seit er sein Leben geändert hat, ist Ameer Baraka nicht nur kein Problem für seinen Bezirk. Er hat sogar das Leben unzähliger anderer Menschen positiv beeinflusst, indem er Jugendliche, ihre Eltern und Erzieher betreut und sich für die Verbesserung der Beziehungen zwischen der Polizei und den Bürgern engagiert.
Wie Dean Bragonier sagt: „Es gibt viele Probleme in der heutigen Gesellschaft. . . einige der kreativsten und innovativsten Köpfe verkümmern in diesem Moment hinter Gittern.“
Falls es möglich ist, das zu ändern, dann ist das doch wert, dass wir ALLE Register ziehen?
Prevalence of dyslexia among Texas prison inmates K C Moody 1 , C E Holzer 3rd , M J Roman , K A Paulsen , D H Freeman , M Haynes , T N James
Dyslexia: Investigating Self-Harm and Suicidal Thoughts/Attempts as a Coping Strategy https://www.longdom.org/open-access/dyslexia-investigating-selfharm-and-suicidal-thoughtsattempts-as-acoping-strategy-2161-0487-1000224.pdf