#42. Nichts, was sich zu lernen lohnt, kann gelehrt werden
Unterrichten kann Anhaltspunkte für das Lernen liefern, aber es führt nicht zum Lernen.
Liebe Freunde,
ich ärgere mich oft über unsere gesellschaftliche Tendenz, Unterrichten mit Lernen gleichzusetzen. Diese Gleichsetzung hören wir nicht nur von Lehrkräften und anderen Schulbehörden, sondern auch von Journalisten und Nachrichtensprechern, die scheinbar gedankenlos davon ausgehen, dass Lernen etwas ist, das vor allem, wenn nicht sogar ausschließlich in der Schule stattfindet und das Produkt des Unterrichtens ist.
Ein Jahr oder mehr nach der Schulschließung wegen COVID hörten wir regelmäßig Aussagen wie: "Wegen COVID haben die Schüler ein Jahr Lernzeit verloren." Ein paar Jahre zuvor wurde ich zu einer PBS-Radio-"Debatte" über die Frage eingeladen: "Sollte der Sommer für Kinder dem Spielen oder dem Lernen gewidmet sein?" Der Diskussionsgegner war ein Vertreter einer Organisation, die sich dafür einsetzt, das Schuljahr über den Sommer zu verlängern, weil im Sommer so viel "Lernen" verloren geht. Irgendwie war es weder dem Moderator der Sendung noch meinem Debattengegner klar, dass viel echtes Lernen im Spiel und viel unechtes Lernen in der Schule stattfindet. Unechtes Lernen kann leicht verloren gehen.
Ich habe schon vor Jahrzehnten über die Diskrepanz zwischen Unterrichten und Lernen nachgedacht, als ich am Boston College anfing zu unterrichten und feststellte, dass das, was die Schüler/innen in meinen Kursen lernten, relativ wenig mit dem zu tun hatte, was ich glaubte zu lehren. Diese Sorge veranlasste mich unter anderem dazu, Peter Kugel, einen Kollegen aus dem Fachbereich Informatik des Boston College, einzuladen, im Fachbereich Psychologie einen Vortrag über Lehren und Lernen aus der Sicht eines Informatikers zu halten. Ich wusste, dass er sich mit dem Konzept des Lernens auf einer grundlegenden theoretischen Ebene im Zusammenhang mit seiner Informatikforschung beschäftigt hatte. Er betitelte seinen Vortrag mit "Nothing Worth Learning Can be Taught" (Nichts, was sich zu lernen lohnt, kann gelehrt werden) und veröffentlichte anschließend einen Artikel mit diesem Titel (Kugel, 1979).
Der Titel ist eine Abwandlung des berühmten Zitats von Oscar Wilde (1908): "Bildung ist eine bewundernswerte Sache, aber es ist gut, sich von Zeit zu Zeit daran zu erinnern, dass nichts, was wissenswert ist, gelehrt werden kann." Es drückt eine Idee aus, die von vielen Menschen, die sich Gedanken über das Lehren und Lernen gemacht haben, auf unterschiedliche Weise dargestellt wurde, darunter Platon, Kierkegaard, Carl Rogers und John Holt, die alle in Kugels Artikel erwähnt werden.
Ein bisschen ausführlicher
Wie bei vielen Aussagen, die von den einen als tiefgründig und von den anderen als töricht empfunden werden, hängt es von den Definitionen ab, inwieweit die Behauptung von Kugel und Wilde wahr ist.
Erstens: Was ist mit "lernenswert" gemeint? Ich denke, für Kugel und andere, die ähnliche Behauptungen aufstellen, ist etwas lernenswert, wenn es das Verhalten des Lernenden in der realen Welt positiv beeinflusst. Im schulischen Kontext wird künstlich suggeriert, dass etwas "lernenswert" ist, wenn es dazu beiträgt, einen Test zu bestehen und gute Noten zu bekommen (und damit die Schule endlich hinter sich zu lassen). Aber das ist nur ein Artefakt des Schulsystems. Du kannst Tests bestehen, indem du einfach nachplapperst, was die Lehrerin oder der Lehrer gesagt hat, ohne etwas gelernt zu haben, das sich auf andere Aspekte deines Verhaltens auswirkt. Ich schränke den Begriff "lernenswert" so ein, dass er nur Dinge umfasst, die es auch dann wert wären, gelernt zu werden, wenn es keine Schulprüfungen und Noten gäbe. Mit der gleichen Argumentation schließe ich auch das Lernen aus, das einfach nur dazu beiträgt, dass man bei Trivial Pursuit gut abschneidet.
Und dann ist da noch das Konzept des Unterrichtens oder Lehrens. Kugel war am Boston College als großartiger Lehrer bekannt. Die Studenten begehrten seine Kurse. Ich glaube nicht, dass er seinen Unterricht für wertlos hielt. Ich glaube, er würde sagen, dass Lehren zwar nicht zum Lernen führt, aber eine Rolle beim Lernen spielen kann, genau wie jede andere Erfahrung, die ein Lernender in der Welt macht. Echtes Lernen (d. h. etwas zu lernen, das es wert ist, gelernt zu werden) ist kein passives Aufnehmen von Informationen, bei dem man sie nur nachplappern kann. Es ist immer ein aktiver Prozess, der das Denken und die Initiative des/der Lernenden erfordert. Solches Lernen ist immer ein kreativer Akt der Entdeckung. Ereignisse, die der/die Lernende erlebt - und manchmal auch die Worte eines Lehrers/einer Lehrerin - sind Anreize, die bei der Entdeckung helfen können, aber sie sind nicht das, was die Entdeckung hervorbringt. Der/die Lernende produziert sie.
Du und ich sind uns wahrscheinlich einig, dass es sich in unserer Kultur lohnt, lesen und mit Zahlen rechnen zu lernen, wenn es sinnvoll ist. Lass uns also Kugels Prämisse in Bezug auf das Lesen- und Rechnenlernen untersuchen.
Anwendung auf das Lesenlernen
Die meisten Menschen scheinen heute zu glauben, dass Menschen lesen lernen, weil es ihnen beigebracht wird. Vielleicht kennst du den Autoaufkleber: "Wenn du das lesen kannst, danke einer Lehrerin". Historisch gesehen ist das ein relativ neuer Glaube. Im 18. und frühen 19. Jahrhundert, vor dem Aufkommen der allgemeinen Schulbildung, konnte ein hoher Prozentsatz der Menschen in Westeuropa und Amerika lesen, und es war allgemein anerkannt, dass man, wenn man in einer lesenden Familie aufwuchs, in der das Lesen Teil des Umfelds war, lesen lernen würde, ob man nun bewusst unterrichtet wurde oder nicht (Bowles & Gintis, 2000; Thomas, 2017).
Es gibt auch zahlreiche Belege aus der neueren Forschung, dass Kinder, in der Selbstbestimmten Bildung, in der Regel auch ohne gezielten Unterricht lesen lernen, und sogar Belege dafür, dass gezielter Unterricht den Prozess des Lesenlernens oft verlangsamt oder unterbricht (siehe Gray, 2016; Pattison, 2017).
Es gibt auch Grund zu der Annahme, dass Fälle von sogenannter Legasthenie häufig das Ergebnis des Versuchs sind, Kindern das Lesen beizubringen, die noch kein Interesse daran entwickelt haben, die noch nicht bereit sind, sich intellektuell damit zu beschäftigen und die durch den auferlegten Druck so verunsichert werden, dass sie eine mentale Blockade gegen das Lesen entwickeln (siehe hier und Brief #40). Kinder lernen lesen, wenn sie sich intellektuell mit dem Lesen auseinandersetzen und bereit sind, die notwendigen Entdeckungen zu machen. Dann suchen sie nach Hinweisen, wo immer sie sie finden können, die ihnen helfen, die Entdeckungen zu machen, die sie schließlich zu flüssigen Lesern werden lassen. Einige dieser Hinweise können von den Worten oder Demonstrationen einer Lehrkraft kommen oder auch nicht.
Anwendung auf das Lernen von Mathematik
Als ich vor vielen Jahren regelmäßig Statistik für Studenten der Sozialwissenschaften unterrichtete, stellte ich fest, dass fast keine Schüler die Mathematik, die sie in der Schule gelernt hatten, verstanden hatten. Es handelte sich dabei um Studierende einer sehr selektiven Universität (Boston College), von denen die meisten gute Noten in ihren Highschool-Mathekursen erhalten hatten. Einige wussten noch, wie man die Verfahren durchführt, aber sie hatten keine Ahnung, warum die Verfahren funktionieren oder warum oder wann man sie durchführen sollte. In einem Fragebogen, den ich sie anonym ausfüllen ließ, gab die Mehrheit an, unter einer "Mathephobie" zu leiden, die sich vermutlich aus dem Stress entwickelt hat, eine Show abziehen zu müssen, um etwas zu lernen, was sie in Wirklichkeit gar nicht gelernt hatten.
In einem meiner ersten Beiträge auf meinem Blog ""Psychology Today"" (hier) habe ich ein bemerkenswertes Experiment beschrieben, das Anfang des 20. Jahrhunderts in Manchester, New Hampshire, durchgeführt wurde und bei dem Schüler/innen in einigen Schulen bis zur 6. Klasse unterrichtet wurden. Das Ergebnis: Zu Beginn der 6. Klasse schnitten die Schüler, die keine Mathematik unterrichtet wurden, bei Rechenaufgaben - also Problemen, bei denen es um den sinnvollen Umgang mit Zahlen geht - besser ab als diejenigen, die die ganze Zeit über den üblichen Mathematikunterricht hatten. Der Forscher, der zufällig auch der Superintendent der Schulen in Manchester war, kam zu dem Schluss, dass der Mathematikunterricht die Schüler/innen für alles, was mit Zahlen zu tun hat, "chloroformiert" hat, so dass sie ihren gesunden Menschenverstand verloren haben, wenn Zahlen auftauchten. Eines der beständigsten Merkmale unseres Bildungssystems ist, dass es gute Forschung ignoriert, wenn die Ergebnisse nicht zu den Vorurteilen passen. Dieses Experiment wurde nie wiederholt und ich sehe keinen Hinweis darauf, dass es jemals in den Schulen diskutiert wird.
In einem anderen Beitrag (hier) habe ich die Ergebnisse einer informellen Studie beschrieben, in der untersucht wurde, wie ungeschulte Kinder mathematische Konzepte ohne Unterricht erlernen, und zwar aufgrund ihrer alltäglichen natürlichen Erfahrungen mit Zahlen und Berechnungen und manchmal auch aufgrund ihrer Faszination für mathematische Muster. Ohne den erzwungenen Unterricht entwickeln sie keine Mathephobie und scheinen durchaus in der Lage und willens zu sein, alles zu lernen, was sie wissen müssen, wenn sie es wissen müssen.
In einem anderen Beitrag (hier) habe ich nachgewiesen, dass Schüler/innen in den Sommerferien einige der auswendig gelernten mathematischen Prozeduren aus dem vorangegangenen Schuljahr vergessen, aber in Bezug auf das mathematische Denken pro Monat mehr lernen als während der Schulzeit.
Ich denke, all dies ist ein Beweis dafür, dass wirkliches mathematisches Lernen nicht das Ergebnis von Unterricht, sondern von Interesse und Engagement ist. Ein interessierter und engagierter Mensch mag einen Lehrer als Hilfsmittel benutzen, genauso wie er oder sie ein Buch oder irgendetwas anderes benutzen mag, aber die Initiative und die aktive Anstrengung kommen vom Lernenden, nicht vom Lehrer.
Eine echte Bildungswissenschaft würde sich viel mehr damit befassen, wie Kinder auf natürliche Weise lernen und wie man ein Umfeld schafft, das dieses Lernen unterstützt, und viel weniger mit der Untersuchung von Lehrmethoden. Bildung wird von Lernenden betrieben, nicht von Lehrkräften.
Weitere Denkanstöße
Meine Überlegungen über das schwierige Verhältnis zwischen Unterrichten und Lernen haben mich schon früh dazu gebracht, meinen Unterrichtsstil zu ändern. Anstatt Informationen zu vermitteln, die in Tests abgefragt werden, begann ich, Ideen zum Nachdenken zu präsentieren und kleine Experimente und Demonstrationen im Unterricht durchzuführen, die zum Nachdenken und zur Diskussion anregen sollten. Falls es dich interessiert, habe ich diesen Unterrichtsstil in Brief Nr. 31 beschrieben.
Nun möchte ich wissen, was du über das Verhältnis zwischen Unterrichten und Lernen denkst und welche Erfahrungen du gemacht hast. Welche Lehrkraft hatte den größten positiven Einfluss auf dich in dem Sinne, dass sie dein Verhalten in der realen Welt oder dein Verständnis auf positive Weise verändert hat? Was war die Methode dieser Lehrkraft? Deine Gedanken, die du in die Kommentare unten schreibst, werden diesen Brief für mich und andere Leser noch wertvoller machen.
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Mit Respekt und den besten Wünschen,
Peter
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Hinweis: Dieser Brief ist eine abgewandelte Version eines Aufsatzes, den ich vor einem Jahr auf meinem Psychology Today Blog, Freedom to Learn, veröffentlicht habe.
Referenzen
Bowles, S. & Gintis, E. (2000). The origins of mass public education. Ch. 33 in Roy Lowe (ed.), History of education: major themes. Volume II: Education in its social context. London: RoutledgeFlamer
Gray, P. (2016). Children’s natural ways of educating themselves still work: even for the three Rs. In D.C. Geary & D.B. Berch (eds), Evolutionary perspectives in child development and education pp 67-93. Springer.
Kugel, P. (1979). Nothing worth learning can be taught. Improving College and University Teaching, 27, 5-9.
Pattison, H. (2017). Rethinking learning to read. Shrewsbury, UK: Education Heretics Press.
Thomas, A. (2017). Forward to H. Pattison, Rethinking learning to read.
Wilde, O. (1908). The critic as artist. Intentions, 3rd edition. Methuen & Co.