#5 Nächste Aha-Erlebnisse auf meiner eigenen Reise - Erfolgreiche Analphabeten: WIE BITTE?
Was wäre, wenn Schule Legasthenie verursacht? von Je’anna L Clements
Als ich auf Daniel Greenbergs Behauptung, es gäbe keine Fälle von Legasthenie, stieß, gingen mir zum ersten Mal radikale Gedanken über Legasthenie durch den Kopf. Zum ersten, aber nicht zum letzten Mal.
Ein paar Jahre später stieß ich auf Roger A. Clarks Studie über „Erfolgreiche Analphabeten“, und ich war erneut verblüfft. In mehrfacher Hinsicht. Zunächst mal musste ich innehalten um den Titel zu durchdringen.
Analphabeten. Die trotzdem erfolgreich waren.1
Clark weist darauf hin, dass Maßnahmen zur Bekämpfung des Analphabetismus bei Erwachsenen in der Regel auf zwei falschen Annahmen beruhen: „Erstens, dass Alphabetisierung eine notwendige Voraussetzung für Erfolg im Leben ist, und zweitens, dass Analphabeten kein Selbstvertrauen haben, nicht in der Lage sind, einer dauerhaften Erwerbstätigkeit nachzugehen, arm und in einem Kreislauf von Benachteiligung und mangelnder Bildung gefangen sind“.
Wow! Das sind genau die gleichen falschen Annahmen wie bei den Regelschul- systemen. Der Glaube an diese beiden kulturellen Mythen ist weit verbreitet bei Eltern, Lehrern - jedermann. Bis zu diesem Moment habe auch ich daran ge- glaubt! Sie werden den jungen Menschen so vermittelt, als ob es sich um Tatsachen handelt, und für einen jungen Menschen, bei dem sich gerade eine Legasthenie entwickelt (und seine Eltern) ist diese Botschaft erschreckend.
Und falsch ist sie auch.
Wow. Einfach Wahnsinn. Es war schon 1993 so, dass man nicht lesen können muss, um im Leben erfolgreich zu sein. Sicherlich war es hilfreich. Aber es war keine unüberwindliche Hürde! Und jetzt, im nächsten Jahrhundert, wo es Vorlese- und Diktier-Software gibt? Jetzt ist der Mythos noch hohler.
Aber das ist noch nicht mal die größte Überraschung, den diese Studie bei mir ausgelöst hat.
Die zweite Sensation war für mich die Tatsache, dass Clark aufdeckte, dass diese Männer sich durch ihre mangelnde Lese- und Schreibfähigkeit nicht als behindert empfanden, wohl aber durch das soziale Stigma, das mit ihrem Analphabetismus verbunden war - und zwar so sehr, dass sie die Tatsache, dass sie nicht lesen konnten, vertuschen mussten, um erfolgreich zu sein.
Mit anderen Worten: Wir, Sie und ich, schaffen gerade aktiv eine eine lähmende Behinderung für andere Menschen, und zwar aus keinem anderem Grund als unseren eigenen Vorurteilen und Ignoranz. Das ist enorm. Aber das war auch noch nicht die größte Überraschung für mich.
Die größte Überraschung war der Grund, warum die Studie in Auftrag gegeben wurde. Die Studie wurde in Auftrag gegeben, weil die Leute, die Alphabetisierungskurse für Erwachsene anbieten, nicht wussten, warum ihr Angebot nicht gewürdigt wurde. Sie hatten die heilige Aufgabe, den „armen“ Menschen zu „helfen“, aber die gingen weg und kamen nicht zurück.
Clark hat den Grund genau erkannt. Es wurde deutlich, dass Männer, die es im Leben zu etwas gebracht haben, es nicht schätzen, wie Sozialfälle behandelt zu werden. Sie waren daran interessiert, lesen zu lernen, klar, warum nicht. Aber Unterricht, der sie als behindert ansah, empfanden sie - im besten Fall - als beleidigend. Im schlimmsten Fall könnten solche Kurse Menschen in das Trauma behindernder Scham zurückversetzen, der sie so sehr versuchten zu entkommen.
Clark teilte den Programmgestaltern mit, dass „ein auf „Defizite“ ausgerichtetes Interventionsprogramm scheitern kann, wenn es die Bedeutung der Lese- und Schreibfähigkeit zu sehr betont, was die wahrnehmbaren Leistungen erwachsener Analphabeten schmälert.“ Mit „scheitern“ meint Clark, dass sich die Teilnehmer irgendwann so sehr schämen, dass sie einfach nicht mehr zum Unterricht erscheinen, um sich noch eine weitere Dosis Scham abzuholen. Der einzige Unterschied zu jungen Menschen in der Regelschule ist, dass sie keine andere Wahl haben, als wieder in den Unterricht zu gehen.
Wir sind so daran gewöhnt, junge Menschen als abhängig und minderwertig zu behandeln, dass es uns schwer fällt zu verstehen, dass junge Legastheniker dieselben Gefühle haben wie erwachsene Legastheniker.
Wie wir im nächsten Abschnitt sehen werden, ist jede Maßnahme, die sich auf INkompetenz konzentriert, zum Scheitern verurteilt. Das Gleiche gilt für jede Intervention, die das Gefühl der Eigenständigkeit untergräbt.
Abgesehen von der Frage, wie gut konventionelle Interventionen bei jungen Legasthenikern „funktionieren“, gibt es ein grundsätzliches Problem. Im Prinzip beruhen alle aktuellen Lösungen auf der Eignung, der Ausbildung und den Absichten der Menschen UM den Legastheniker herum, auf dem Umfang der Unterstützung FÜR den Legastheniker und auf der Qualität der Hilfsmittel und der Technik, die DEM Legastheniker zur Verfügung gestellt wird.
Legastheniker sind dadurch ihren sozioökonomischen Umständen ausgeliefert, und den Fähigkeiten und dem Wohlwollen anderer Menschen. Das bedeutet nicht nur, dass Legastheniker in schlecht ausgestatteten Umgebungen weiterhin durch die Maschen fallen, sondern auch, dass Legastheniker weiterhin abhängig bleiben, angewiesen auf „Wohltätigkeit“.
All diese „Lösungen“ sind gut gemeint, aber bevormundend. Sie bewirken nicht, dass Talente gestärkt und genutzt werden, die dem wahren Selbst der dyslektischen Person innewohnen - wie Selbstständigkeit, Kreativität und Erfindungsreichtum. Stattdessen basieren sie auf dem Gedanken, Legastheniker seien unfähig, ohne Hilfe von außen zurechtzukommen - was das Gefühl der Kompetenz grundlegend untergräbt.
Stärkt es das Selbstwertgefühl von Legasthenikern, wenn sie abhängig und auf „Wohltätigkeit“ angewiesen sind? Oder löst es Scham aus?
Hmmm. . .
Zurück zu Friths „großer Kluft zwischen Gehirn und Verhalten“, verursacht durch „äußere Einflüsse“, die „in das klinische Bild einfließen“. 2
Die letzten Aha-Erlebnisse, die zu meinen heutigen Gedanken über Legasthe- nie führten, kamen allmählich, als ich mich mit menschlicher Motivation und Wohlbefinden und deren Beziehung zum Lernen beschäftigte.
Was wäre, wenn nicht „äußeren Einflüsse“ wie das Alter, in dem Legasthenie diagnostiziert wird, oder wie sie behandelt wird, sondern „äußere Einflüsse“, die Motivation und das Wohlbefinden vermitteln, die entscheidenden Einflüsse sind, die „ins Spiel kommen“ und den Unterschied zwischen Dyslexie und Legasthenie ausmachen?
Lassen Sie mich das ein wenig entflechten, und herausfinden, was Sie davon halten.
https://open.library.ubc.ca/cIRcle/collections/ubctheses/831/items/1.0055920
Paradoxes in the definition of dyslexia, December 1999 Dyslexia 5(4) DOI: 10.1002/(SICI)1099-0909(199912)5:43.0.CO;2-N