#8 Also: Wie kann Schule Legasthenie verursachen?
Was wäre, wenn Schule Legasthenie verursacht? von Je’anna L Clements
Angesichts dessen, was wir über Motivation wissen, ist klar, warum junge Menschen, in einer Situation, die Selbstbestimmte Bildung ermöglicht, ihre ganze Kraft nutzen können, um alle Hindernisse beim Lesen zu überwinden. Es ergibt sogar Sinn, dass Ameer Baraka im Gefängnis plötzlich Lesen lernen konnte, obwohl er es bis dahin nie geschafft hatte.
Andererseits: wenn Motivation und Lernfähigkeit beeinträchtigt werden, wenn wir das Gefühl haben, dass andere Menschen für unser Handeln verantwortlich sind, wenn wir an unserer eigenen Kompetenz zweifeln, wenn Beziehungen beschädigt werden und wir uns ängstlich fühlen - leuchtet es auch ein, dass selbst nicht dyslektische Jugendliche oft eine Art „Leseallergie“ entwickeln, wenn sie in der Schule zum Lesen lernen gedrängt werden.
Wie Csikszentmihalyi betont, „hören viele Menschen auf zu lernen, nachdem sie die Schule verlassen. Unterricht über viele Jahre hinweg hinterlässt oft unan- genehme Erinnerungen. Weil ihre Aufmerksamkeit von Lehrbüchern und Lehrern manipuliert wird, betrachten sie den Schulabschluss als den ersten Tag der Freiheit“.1
Dieser „Norm“ steht die Tatsache gegenüber, dass Schulen mit selbstbestimm- tem Lernen oft mit jungen Menschen zu tun haben, die die „Schule“ so sehr lieben, dass sie keine Ferien wollen, leidenschaftliche Freude und Lust am Lernen besitzen und zu einem ungewöhnlich hohen Anteil ein Hochschulstudium aufnehmen wie die Abgänger der Sudbury Valley School.2
“Dysteachia“ ist im Englischen ein Begriff für Probleme, die aus unzulänglichem Unterricht entstehen (to teach = lehren, deutsch etwa „Lehrstörung“), und er wird oft verwendet, um darauf hinzuweisen, dass Lehrer auch in multisensorischen, auf Phonetik basierenden Lesetrainingsmethoden ausgebildet werden müssen.
Was aber, wenn „Lehrstörung“ viel mehr aussagt als das?
Was ist, wenn nicht der Unterrichtsstil, sondern die Pflicht zum Unterricht das Problem ist? Was ist, wenn jede Art von Unterricht, egal wie kompetent sie auch sein mag, die ohne wirkliches Einvernehmen des Lernenden auferlegt wird, der Kern des Problems ist? Nicht nur für Legasthenie, sondern für alle anderen Formen von Elend und Versagen, die wir derzeit als „normalen Teil“ der Schule betrachten?
Eine ausführlichere Erörterung dieser Dynamik würde den Rahmen dieses Buches sprengen. Sie kann aber im ersten meiner Bücher über die Förderung Selbstbestimmter Bildung nachgelesen werden: Helping The Butterfly Hatch, Buch 1: „How Does Self-Directed Education Work, and Why?“ (siehe Abschnitt „Zur weiteren Lektüre“ am Ende dieses Textes).
Hier ist also meine Hypothese. Es stimmt, wenn Greenberg sagt: „Wir hatten noch nie einen Fall von Legasthenie“ (Hervorhebung von mir). Es ist nicht so, dass sie nie Dyslektiker eingeschrieben hatten. Es ist nur so, dass keiner dieser Dyslektiker sich jemals zu einem „Fall“ von Legasthenie entwickelt hat, eben weil niemand versucht hat, ihn Lesen „zu lehren“.
Genau das ist es, was Greenberg in „The Sudbury Valley School Experience“ sagt: „Es könnte ein Zufall sein. Die Schüler, die die SVS besuchen, könnten rein zufällig nicht zu diesen 10-15% gehören. Aber so funktioniert es nicht. Es gibt hier keine Vorauswahl von Nicht-Dyslektikern. Wir haben keine Legasthenie, weil wir sie nicht herbeigeführt haben.“
Lassen Sie uns mit den Möglichkeiten spielen, nur so zum Spaß. Zurück zu mir und Sir Steve. Wir sind im selben Jahr geboren, ich im August, und zwar an einem Ort, an dem das Schuljahr im Januar beginnt. Er wurde im Oktober geboren, an einem einem Ort, an dem das Schuljahr im September beginnt. Ich wette, dass er einen Monat vor seinem sechsten Geburtstag eingeschult wurde, während ich mit sechseinhalb Jahren begann.
Wir wissen bereits, dass in nach Lebensalter trennenden, standardisierten Bildungssystemen „Sommerkinder“ oft im Nachteil sind wegen ihrer mangelnden körperlichen Reife im Vergleich zu Gleichaltrigen.3 Ich habe Lesen gelernt, als die Zeit für mich reif war, und auf meine eigene Weise - ich weiß nicht genau, wann. Nehmen wir mal an, ich wäre genau sechs Jahre und vier Monate alt gewesen, und dass Sir Steve und ich Seelenzwillinge waren, und dass er - wenn es nach ihm gegangen wäre - genau dasselbe getan hätte.
Nur hatten zu diesem Zeitpunkt bereits andere Leute versucht, ihn zum Lesen zu bringen, und zwar auf ihre Art und Weise, unter Druck, und das schon seit vier Monaten. Es ist völlig plausibel, dass das sein Selbstvertrauen und seine Motivation so stark beeinträchtigt hat, dass das den Unterschied macht zwischen seiner Legasthenie und meiner „wahrscheinlichen Dyslexie“. Wäre ich auf der Nordhalbkugel geboren worden, hätte mich vielleicht das gleiche Schicksal ereilt.
Stellen wir uns nun einen anderen Seelenzwilling vor - jemanden, der vor zehn Jahren geboren wurde. Meine eigene Vorschulerfahrung war von der altmodischen Art - Lieder und Kinderreime, Malen mit den Fingern, Spielen mit anderen Kleinkindern, Geschichten hören und sich schmutzig machen. Mein Zwilling aus diesem Jahrhundert wäre wahrscheinlich schon im Alter von vier Jahren mit Schreibtischarbeit betraut worden. Auch das könnte einen Unterschied machen zwischen meiner „wahrscheinlichen Dyslexie“ und deren Legasthenie.
Democratic Schooling: What Happens to Young People Who Have Charge of Their Own Education? Peter Gray and David Chanoff, American Journal of Education, Vol. 94, No. 2, The University of Chicago PressStable, http://www.jstor.org/stable/1084948