#66. Hatte ich mit elf Jahren eine „Angelstörung“?
Hier findest du einige meiner Überlegungen und die Forschungsergebnisse anderer zum Problem der Diagnose „Internet Gaming Disorder“.
Liebe Freunde,
In Brief #64 habe ich kurz sechs Gründe beschrieben, warum die Begriffe „Sucht“ und „Störung“ schädlich sind, wenn es darum geht, problematischen Internetgebrauch zu verstehen und zu behandeln, einschließlich problematischem Videospiel- und Social Media-Gebrauch. Ich habe diese Gründe aufgelistet: (1) die falsche Analogie zu Drogensucht; (2) die Entmachtung der Person, die das Problem hat; (3) die Stereotypisierung der Person, die das Problem hat; (4) die Unterstellung, dass das Verhalten das Problem verursacht, obwohl es eine Folge des Problems sein könnte; (5) die Verteufelung der Aktivität und die Förderung von Verboten, besonders für Kinder; und 6) das Problem der Diagnose.
Im Brief Nr. 65 habe ich den ersten dieser Gründe näher erläutert und den Mythos widerlegt, dass diese Aktivitäten vergleichbare Auswirkungen wie eine Drogensucht haben. In diesem Brief wende ich mich nun dem letzten Punkt auf der Liste zu, dem Problem der Diagnose. Da sich die meisten einschlägigen Untersuchungen auf Videospiele beziehen, werde ich mich darauf konzentrieren und die „Sucht“ nach sozialen Medien für einen späteren Brief aufheben.
Die von der APA vorgeschlagene Definition der Internet Gaming Disorder (IGD)
Seit der Veröffentlichung der Fünften Ausgabe des offiziellen Diagnosehandbuchs für psychische Störungen (DSM-5) erwägt die American Psychiatric Association (APA), die Internet Gaming Disorder (IGD), also das, was andere als Videospielsucht bezeichnen, in die nächste Ausgabe aufzunehmen. Versuchsweise hat die APA vorgeschlagen, dass eine Person die Diagnose „Internet Gaming Disorder“ erhält, wenn mindestens fünf der folgenden neun Merkmale auf sie zutreffen:
Besessenheit*: Die Person verbringt viel Zeit damit, über Spiele nachzudenken, auch wenn sie sie nicht spielt.
Rückzug: Fühlt sich unruhig, wenn er nicht spielen kann.
Toleranz*: Er muss mehr oder leistungsstärkere Spiele spielen, um den gleichen Nervenkitzel wie vorher zu erleben.
Reduzieren: Fühlt sich, als sollte er oder sie weniger spielen, ist aber nicht in der Lage dazu.
Andere Aktivitäten aufgeben*: Reduziert die Teilnahme an anderen Freizeitaktivitäten.
Trotz Problemen weiterspielen: Spielt weiter, obwohl er/sie weiß, dass es negative Auswirkungen auf sein/ihr Leben hat.
Täuschen*: Lügt darüber, wie viel er oder sie spielt.
Der Stimmung entfliehen*: Spielt Spiele, um Ängste oder Stress abzubauen.
Risiko: Er oder sie riskiert den Verlust von wichtigen Beziehungen oder des Arbeitsplatzes wegen des Spielens.
Wenn du diese Liste liest, kannst du vielleicht erkennen, warum diese Definition umstritten ist. Der Vorschlag lautet, dass eine Person, auf die mindestens fünf dieser neun Merkmale zutreffen, an IGD leidet. Aber denk mal drüber nach. In der obigen Liste habe ich fünf Merkmale mit Sternchen versehen, die auf jeden zutreffen könnten, der sich intensiv für ein Hobby interessiert. Ich werde diese fünf Merkmale hier auf mein 11-jähriges Ich anwenden, als ich mich sehr für das Angeln interessierte, man könnte sogar sagen, besessen davon war.
Meine Angelkrankheit (FD (Fishing Disorder))
Hier sind die fünf:
Besessenheit kann einfach nur bedeuten, dass die Person wirklich davon begeistert ist. Wer ein leidenschaftliches Interesse an einem Hobby hat, verbringt wahrscheinlich viel Zeit damit, darüber nachzudenken“. Als ich 11 Jahre alt war, habe ich sehr viel Zeit damit verbracht, über das Angeln nachzudenken, auch wenn ich es nicht tat, und ich habe regelmäßig nachts davon geträumt.
Die Toleranz gilt auch für fast jedes andere Hobby. Wenn du deine Fähigkeiten verbesserst, musst du die Herausforderung erhöhen, um den gleichen Nervenkitzel wie vorher zu erleben. Als ich als Kind angeln ging, musste ich immer größere oder schwieriger zu fangende Fische fangen, um den gleichen Nervenkitzel zu erleben, den ich früher beim Fangen von kleinen Barschen und Sonnenbarschen verspürt hatte.
Andere Aktivitäten aufgeben. Wenn du mehr Zeit mit einem Hobby verbringst, hast du natürlich weniger Zeit für andere Dinge. Die Zeit ist endlich, also gibt es immer einen Kompromiss. Einen ganzen Sommer lang habe ich Baseball fast komplett aufgegeben und einige meiner Hausarbeiten zugunsten des Angelns vernachlässigt. Und, ja, Zeitmanagement ist wichtig (siehe Brief #64).
Täuschen. In einer Welt, in der andere Videospiele missbilligen und die Gamer ständig dazu drängen, weniger zu spielen, ist es kaum verwunderlich, dass einige darüber lügen, wie viel sie spielen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich als Kind jemals über das Angeln gelogen habe, aber wenn die Leute damals das Angeln so missbilligt hätten wie heute das Spielen von Videospielen, hätte ich wahrscheinlich gelogen und mich vielleicht auch für mein Angelhobby geschämt. Es ist möglich, dass ich ein- oder zweimal gelogen habe, als ich einen Teil des Schultages schwänzte, um ein frühmorgendliches Angelabenteuer vor der Schule zu verlängern. Für diese Diskussion nehmen wir mal an, dass ich es getan habe.
Der Stimmung entfliehen. Gehen wir nicht alle manchmal, wenn nicht sogar oft, unserem Lieblingshobby nach, um Ängste oder Stress abzubauen? Wenn es sich dabei um Lesen, Schach oder Radfahren handeln würde, würden die Leute das vielleicht als Pluspunkt ansehen, nicht als Minuspunkt. Ja, als ich 11 Jahre alt war, ging ich manchmal angeln, um den Streitereien und dem Stress zu Hause zu entkommen. In Minnesota, wo ich damals lebte, war es durchaus üblich, dass die Leute das Angeln als Therapie empfahlen. Jemand sagte zu jemandem, der unter Angstzuständen litt: „Du musst angeln gehen.“
Wäre die Fischereistörung also eine diagnostische Kategorie gewesen, als ich ein Kind war, hätte man bei mir vielleicht diese psychische Störung diagnostiziert.
Forschung zur Prävalenz und Validität der IGD
Angesichts der Unbestimmtheit der Definitionskriterien ist es nicht verwunderlich, dass verschiedene Forscherinnen und Forscher eine ziemlich große Bandbreite an Prävalenz von IGD angegeben haben - meistens zwischen 0,6 % und 6,0 % der Spielerinnen und Spieler (Markey & Ferguson, 2017). Diese Untersuchungen zeigen, dass die große Mehrheit der Spielerinnen und Spieler, einschließlich derjenigen, die viel Zeit damit verbringen, nicht „süchtig“ sind, unabhängig davon, wie die diagnostischen Kriterien interpretiert werden. Sich wirklich in ein Hobby zu vertiefen, ist keine Störung.
Außerdem legt die Forschung nahe, dass selbst die meisten Menschen, die die Diagnosekriterien für IGD erfüllen, nach eigenen Angaben nicht unter ihrem Spielen leiden, so wie ich im Alter von 11 Jahren nicht unter meiner “Angelkrankheit" gelitten habe. In einer Reihe großer internationaler Erhebungen, an denen Tausende von Spielern teilnahmen und bei denen die APA-Diagnosekriterien verwendet wurden, fanden Andrew Przybylski und seine Kollegen (2017) heraus, dass 2,4 % der Spieler mindestens 5 der 9 Kriterien bejahten und damit die Diagnosekriterien für IDG erfüllten. Allerdings antwortete nur etwa ein Drittel dieser 2,4 % mit Ja auf die Frage, ob das Spielen für sie eine bedeutende Quelle von Stress sei. Wenn wir also IDG als Erfüllung der APA-Diagnosekriterien und als Leidensdruck aufgrund des Spielens definieren würden, würde der Prozentsatz auf weniger als 1% sinken.
In einer Gesellschaft, in der etwa 30 % der Jugendlichen unter Ängsten oder Depressionen leiden, ist es nicht verwunderlich, dass etwa 30 % der Jugendlichen, die die Diagnosekriterien für IDG erfüllen, unter Ängsten oder Depressionen leiden. Es gibt wenig oder gar keine Beweise dafür, dass ihre Ängste oder Depressionen durch problematisches Spielen verursacht werden. Längsschnittstudien, in denen Videospieler/innen zu zwei oder mehr Zeitpunkten auf IDG und emotionale Störungen untersucht werden, zeigen in der Regel, dass die emotionalen Störungen eher vor als nach den Phasen erhöhten Spiels auftreten (Etchells, 2024; Ferguson et al., 2023). Anders ausgedrückt: Angst oder Depression führen zu mehr Spielen, aber mehr Spielen führt nicht zu Angst oder Depression. Einige Studien haben sogar gezeigt, dass Spielen Ängste und Depressionen verringert.
Diese Ergebnisse haben einige Forscher (z. B. Hygen, 2020: Jeong et al., 2024) zu der Annahme veranlasst, dass Videospiele eine gute Therapie sind, so wie meine Landsleute in Minnesota glaubten, dass Angeln eine gute Therapie sei. Spielen und Angeln (wie so viele andere angenehme Hobbys) halten dich davon ab, über deine Probleme zu grübeln und, im Falle von Multiplayer-Spielen oder Gruppenfischen, verbinden sie dich mit anderen und verringern die Einsamkeit. Und die Freude, wenn du in einem herausfordernden Spiel ein höheres Level erreichst oder einen 5-Pfund-Barsch fängst, hebt deine Laune sofort.
Hey, wenn du dich schlecht fühlst, dann fang an zu angeln, zu spielen oder ein anderes Hobby, das dich wirklich anspricht.
Natürlich muss ich zugeben, dass die nicht mit Sternen versehenen Punkte auf der APA-Diagnoseliste echte Probleme sind. Wenn jemand ruhelos ist, wenn er nicht spielen kann, wenn er wegen des Spielens wichtige Beziehungen oder eine sinnvolle Beschäftigung verliert und/oder wenn er das Gefühl hat, dass das Spielen mehr schadet als nützt, aber nicht aufhören kann, dann hat er ein Problem. Problematisches Spielen auf dieser Ebene ist jedoch sehr selten und betrifft weniger als 1 % der Spieler/innen.
Sowohl Längsschnittuntersuchungen als auch klinische Befragungen zeigen, dass problematisches Spielen auf dieser Ebene häufiger durch ernsthafte vorbestehende emotionale Probleme verursacht wird, als dass es eine Ursache für solche Probleme ist. Du kannst dir leicht vorstellen, warum das so sein könnte. Eine Person, die zu deprimiert oder zu ängstlich ist, um das Haus zu verlassen, könnte sich zum Beispiel Videospielen zuwenden, um sich zumindest etwas zu entspannen. Einige klinische Beispiele dafür habe ich vor einigen Jahren hier beschrieben. Du wirst das emotionale Problem nicht lösen, indem du das Videospiel wegnimmst. Wenn du der Person helfen willst, musst du ihr helfen, herauszufinden, was sie überhaupt depressiv oder ängstlich macht, und ihr helfen, damit umzugehen. Manchmal ist das die Aufgabe eines guten Therapeuten.
Weitere Denkanstöße
Videospiele ziehen Menschen in ihren Bann, weil sie herausfordernd und befriedigend sind. Es ist, wie der Psychologe Mike Langlois sagt, „harter Spaß“. Es trainiert das Gehirn. In einer Zeit, in der wir Kindern so wenige Möglichkeiten bieten, die drei psychologischen Grundbedürfnisse - Autonomie, Kompetenz und Verbundenheit mit Gleichaltrigen - zu befriedigen, bieten Videospiele einen Weg. Darauf werde ich vielleicht in einem zukünftigen Brief eingehen.
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Mit Respekt und besten Wünschen,
Peter
Referenzen
Etchells, P. (2024). Unlocked: The real science of screen time (and how to spend it better). London: Little Brown.
Ferguson, C.J., Jeong, E.J., & Wang, J.C.K. (2023). Pathological gaming: a longitudinal study from the perspectives of mental health problems and social stress model. The Journal of General Psychology 150, 323–343.
Hygen, B.W. et al. (2020). The co-occurrence between symptoms of internetgaming disorder and psychiatric disorders inchildhood and adolescence: prospective relations orcommon causes? Journal of Child Psychology and Psychiatry 61, 890–898
Jeong, H., et al (2024). Association Between Mental Health Problems and Internet Gaming Disorder Using Clinical Diagnostic Interviews: A Two‑Year School‑Based Longitudinal Study, International Journal of Mental Health and Addiction https://doi.org/10.1007/s11469-024-01380-3
Markey, P.M., & Ferguson, C.J. (2017). Moral combat: why the war on violent video games is wrong. Dallas: BenBella Books.
Przybylski, AK, Weinstein, N, Murayama, K: Internet gaming dis- order: investigating the clinical relevance of a new phenomenon. Am J Psychiatry 174, 230–236
so wunderbarer artikel, danke! ich versuche auch ständig mit diesen vorurteilen bei erwachsenen in meinem umfeld aufzuräumen um kindern zu ermöglichen selbst bestimmter zu leben.
es ist bemerkenswert herr gray, dass sie sich in ihrem alter so wunderbar in die jugend hineinversetzen können!